Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 799

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Über die politische Lage. Rede am 8. November 1913 in einer Volksversammlung in Altchemnitz

Nach einem Zeitungsbericht

Vor wenigen Tagen sind die letzten Jubelhymnen verklungen, mit denen man aus Anlaß der Jahrhundertfeiern[1] den Wohlstand und die Glückseligkeit des deutschen Volkes vor der ganzen zivilisierten Welt besungen hatte. Wollte man den Toasten Glauben schenken, man müßte annehmen, daß es unter der Sonne kein Volk gäbe, das so reich und so glücklich wäre wie das deutsche. Kaum aber sind die Jubellieder verklungen, da sehen wir das schwarze Gespenst der Krise und der Arbeitslosigkeit wieder drohend sein Haupt erheben. Ein Abgrund von Not und Elend tut sich vor unseren Augen auf. Das ist die Kehrseite der Jahrhundertmedaille.

Aus der Feder des Direktors der Deutschen Bank ist uns eine statistische Zusammenstellung über den ungeheuren Zuwachs von Reichtum des deutschen Volkes bekannt geworden. Er hat berechnet, daß das Jahreseinkommen des deutschen Volkes etwa um die Mitte der neunziger Jahre 22–25 Milliarden betrug und gegenwärtig betrage es rund 40 Milliarden. Wenn wir solche glänzende Berechnungen hören und uns in unserer nächsten Umgebung umsehen, müssen wir uns da nicht fragen: Wo ist denn dieser Reichtum hingekommen? Die Lobredner des Deutschen Reiches haben vergessen hinzuzufügen, daß der ganze Reichtum des Volkes sich in immer weniger Hände konzentriert hat und daß auf der anderen Seite die Massen des arbeitenden Volkes in Armut dahinleben.

Für uns Sozialdemokraten, die wir bei Karl Marx in die Schule gegangen sind, ist diese Erscheinung nichts Fremdes. Die Wirtschaftskrisen sind periodische Erscheinungen, regelmäßige Folgen der Hochkonjunktur. Der Zeit der Prosperität folgt notwendig eine Periode des wirtschaftlichen Niederganges, eine Krise. Aber auch in unseren Reihen sind lebhafte Zweifel darüber laut geworden, ob sich die Theorie von Karl Marx vor der Geschichte als haltbar erweise. Aber wer Augen hat zu sehen, muß anerkennen, daß Marx recht behält. Für den Proletarier werden die Einkommensverhältnisse immer unzulänglicher; konnte er sich früher in der Prosperitätsperiode für die schlimme Zeit einen Notgroschen erübrigen, so hat die wirtschaftliche Entwicklung es mit sich gebracht, daß heute selbst in der Zeit der Hochkonjunktur der Arbeiter nur soviel verdient, als zum Leben unumgänglich nötig ist. Das Unternehmerkapital macht die glänzendsten Geschäfte, die Arbeiterschaft geht leer aus dabei und

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[1] Am 14. Juni 1913 wurde das 25jährige Regierungsjubiläum Wilhelms II. mit großen Feiern monarchistisch-militaristischen Charakters begangen. Zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig fand vom 16. bis 18. Oktober 1913 die Gedenkfeier statt. Die Sozialdemokratie führte in Leipzig Massenversammlungen unter der Losung „Gegen Geschichtslügen, Byzantinismus und Völkerschlachtsrummel“ durch. Zar Nikolaus II. beging das 300jährige Herrschaftsjubiläum der Romanows in Rußland.