Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1024

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Die russische Revolution

[1]

Über die russische Revolution zu schreiben, ist bei der Unsicherheit und Verworrenheit der Nachrichten, die über sie bisher in das Ausland gelangt sind, einigermaßen schwer,[2] zumal für eine Wochenschrift, deren Auffassung jeden neuen Tag durch neue Nachrichten eingeschränkt oder widerlegt werden kann.

Immerhin gibt es einige Gesichtspunkte, die man heute feststellen kann, ohne befürchten zu müssen, daß sie morgen schon wesenlos erscheinen, und zwar solche Gesichtspunkte, die für das historische Wesen dieser Revolution entscheidend sind. Denn die Fragen, wo sich der Zar und die Zarin befinden, welches Mitglied der Zarenfamilie mit der Revolution zu paktieren geneigt ist oder nicht und dergleichen mehr, mögen für den Philister sehr interessant sein, aber den Politiker gehen sie nichts an, zumal da schon jetzt feststeht, daß die russische Revolution dem Zarentum als solchem keineswegs an Kopf und Kragen will.

Ihrem historischen Wesen nach ist diese Revolution eine Empörung der Bourgeoisie gegen die Unfähigkeit des Zarismus, einen Weltkrieg erfolgreich durchzukämpfen. Es ist bekannt genug, daß die russische Bourgeoisie diesen Weltkrieg leidenschaftlich ersehnt und geschürt hat; es gehört zu dem ärgsten Schwindel der deutschen Regierungssozialisten, den russischen Krieg aus den längst verschollenen Redensarten von Anno dazumal als einen räuberischen Einbruch barbarischer Horden in die westeuropäische Kultur darzustellen. Noch kurz vor Ausbruch des Krieges hat der Professor Mitrofanow, ein angesehener Historiker, der seine Bildung auf deutschen Hochschulen erworben hat, und für seine Person durchaus deutschfreundlich gesinnt ist, in sehr überzeugender Weise dargelegt, daß „Besitz und Bildung“ in Ruß-

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[1] Der Artikel ist mit ♂, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen versehen, das sie auch für ihre Beiträge in der SAZ 1898 häufig verwendet hat. Siehe GW, Bd. 6, S. 129 ff. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist der Artikel unter Nr. 642 ausgewiesen; ebenso in der Bibliographie von Narihiko Ito von 2002, S. 25 unter Nr. 45. Siehe weiter S. 995, Fußnote 1 und S. 999, Fußnote 1.

[2] Die Februarrevolution in Rußland war eine bürgerlich-demokratische Revolution, durch die der Zarismus gestürzt wurde. Da keine Klasse über die ganze Macht verfügte, bildete sich eine Doppelherrschaft heraus. Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft wurde verwirklicht durch den Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten, dessen Vorsitzender der Menschewik N. S. Tschcheidse war, und die Diktatur der Bourgeoisie in Form der Provisorischen Regierung, die von dem Fürsten G. J. Lwow geführt wurde. Als Außenminister gehörten ihr an der Führer der Kadetten, Pawel Miljukow, und als Kriegs- und Marineminister der Führer der Oktobristen, Alexander Gutschkow.