Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 784

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Über den politischen Massenstreik. Vortrag auf einer internen Sitzung vor Delegierten und ausländischen Gästen des Jenaer Parteitages der deutschen Sozialdemokratie am 19. und 20. September 19131

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Nach einem Polizeibericht

Der Generalstreik ist der politische Streik, der Streik gegen den Staat. Nicht der Streik einer vereinzelten Gewerkschaft gegen einen oder mehrere Arbeitgeber oder einen Arbeitgeberverband, nicht der Streik vieler Gewerkschaften zur Unterstützung eines in einer anderen Gewerkschaft ausgebrochenen Streiks gegen die Arbeitgeber, sondern ein jeder Streik, von welchem Umfange er auch sei, der zur Abwehr oder zum Angriff als Demonstration oder als Zwangsmittel, gegen den Staat gerichtet ist. Der Name politischer Streik ist deshalb auch besser. Der politische Streik berührt unmittelbar die Sozialdemokratie als politische Partei. Der andere Streik ist Sache der Gewerkschaften allein, obgleich unstreitbar jeder große ökonomische Streik auch das Staatsleben berührt und deshalb leicht in einen politischen umschlagen kann. Der politische Streik gilt der Sozialdemokratie nicht als Ersatzmittel für die parlamentarische oder politische Aktion. Wir glauben nicht an eine Taktik, die ohne fortwährende Übung, Propaganda und Organisation durch und für den parlamentarischen Kampf immer und immer wieder die in freien Gruppen vereinigten Arbeiter zur defensiven oder offensiven Aktion gegen die Regierung aufrufen könnte. Unserer Überzeugung nach würde dabei das Proletariat jedes Mal unterliegen müssen. (Zustimmung.) Sozialistische Organisation in möglichst festen, gut und lange geschulten und disziplinierten Verbänden ist unseres Erachtens das einzige Mittel, immer und überall die Bourgeoisie zu besiegen oder sich mit gutem Erfolg ihrer zu erwehren. (Beifall.) Ebenso wenig glauben wir, daß ein allgemeiner oder politischer Streik den Kapitalismus zu Boden werfen könne. Die Organisation des Kapitalismus mit ihrer wirtschaftlichen wie geistigen Produktion und ihren politischen Machtmitteln ist zu groß, zu vielumfassend, als daß man sie mit einem einzigen einfachen Mittel revolutionieren, sie mit einem Schlage ermorden könnte. (Sehr richtig.) Wenn jemand das glaubt, un-

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[1] An der Sitzung nahmen 100 Delegierte und sämtliche ausländischen Gäste teil. Den Vorsitz hatte Hermann Molkenbuhr. Es gehe um Klärungen in der Massenstreikdiskussion. Es handle sich nicht darum, „ob die Anwendung des Massenstreiks zur Eroberung des preußischen Wahlrechts an und für sich notwendig sei, sondern ob ein Massenstreik für deutsche Verhältnisse überhaupt angebracht ist“. Siehe Polizeibericht, Bl. 192. Es gebe erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Mit Rosa Luxemburg und Friedrich Ebert wären zwei Referenten vorgesehen, die ausländischen Gäste wurden gebeten, in der Praxis gewonnene Erfahrungen mitzuteilen. Da zu den ausländischen Beiträgen und zu abgeschlossenen Vorträgen Kritik nicht ratsam sei, begründete Ludwig Frank seinen Antrag, eine Diskussion abzulehnen. Diesem Antrag wurde zugestimmt. Siehe ebenda, Bl. 193.