Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 797

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Die politische Lage und die Aufgabe der Arbeiterklasse. Rede am 30. September 1913 in einer sozialdemokratischen Mitgliederversammlung in Mainz

Nach einem Zeitungsbericht

In diesem Jahre der Jahrhundertfeiern1[1] zeigt sich das Deutsche Reich als das Land der Zufriedenen und Glücklichsten unter der Sonne. Wie unter der Zeit Wilhelms II. in Deutschland der Reichtum gewachsen ist, zeigt eine Statistik. Danach vermehrte sich der Reichtum Deutschlands um 40 Milliarden Mark. Im Rummel der Jahrhundertfeiern preist die deutsche Bourgeoisie diesen Reichtum, aber der sozialdemokratische Parteitag in Jena2[2] mußte sich mit einer tiefernsten Frage eingehend beschäftigen, nämlich der Arbeitslosenfürsorge. Wir gehen einer allgemeinen Krise entgegen, wie wir sie noch nicht mitgemacht haben. Was eine Krise für das arbeitende Volk zu bedeuten hat, das wissen nur die arbeitenden Massen. Bereits in der Blüte der kapitalistischen Prosperität haben wir ja den Hungerschrei vernommen. 1911 hatten wir die Hungerrevolten in Belgien, Frankreich und Österreich, wo es zu lebhaften Zusammenstößen zwischen der Polizei und dem hungernden Proletariat kam. In Deutschland ist die Not allgemeine Regel geworden. Die Lebenshaltung der arbeitenden Klasse wird immer mehr herabgedrückt. Die Löhne sind nicht so gestiegen, daß sie zu den anschwellenden Ausgaben im Verhältnis standen. Trotz dieser großen Not im arbeitenden Volke beobachteten wir die wahnsinnigste Entfaltung des Imperialismus. Der Deutsche Reichstag nahm eine beispiellose Militärvorlage an3, [3] die in keinem anderen Staate eine Ähnlichkeit findet. Wenn die herrschenden Klassen damit prahlen, daß sie auf dem Altar des Militarismus einen Wehrbeitrag von einer Milliarde leisten, so ist das lächerlich. Sie wissen, daß das Geld bald wieder aus den Ärmsten der Armen herausgeschunden sein wird. Wenn die Junker und Junkergenossen und andere reiche Leute diesen Wehrbeitrag leisten, so haben sie das Geld nicht durch ihren Schweiß erworben, sondern die Arbeiter mußten es erst verdienen. Die Genossen im Reichstage hätten die Deckungsvorlage ablehnen müssen. Die eine Tatsache steht fest, daß die deutsche Militärvorlage und ihre Deckung ein weiterer Grund zum gewaltigen Wettrüsten bei anderen Staaten ist. Die Rednerin schildert dann die Wirkungen des Militarismus und hebt hervor, wie dem Wüten des Militarismus gegenüber die Sozialdemokratie die Abrüstung und den Völkerfrieden predigt. Freilich

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[1] Am 14. Juni 1913 wurde das 25jährige Regierungsjubiläum Wilhelms II. mit großen Feiern monarchistisch-militaristischen Charakters begangen. Zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig fand vom 16. bis 18. Oktober 1913 die Gedenkfeier statt. Die Sozialdemokratie führte in Leipzig Massenversammlungen unter der Losung „Gegen Geschichtslügen, Byzantinismus und Völkerschlachtsrummel“ durch. Zar Nikolaus II. beging das 300jährige Herrschaftsjubiläum der Romanows in Rußland.

[2] Der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Jena hatte vom 14. bis 20. September 1913 stattgefunden.

[3] Ende März 1913 war im Deutschen Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10000 M aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Deutschen Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe (dem sog. Wehrbeitrag) und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Im Namen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gab Hugo Haase vor der Abstimmung über die einzelnen Gesetze der Deckungsvorlage eine Erklärung ab, in der dem außerordentlichen Wehrbeitrag und der Besitzsteuer zugestimmt und dies als Anfang der von der Sozialdemokratie geforderten Steuerpolitik bezeichnet wurde. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß unter Mißbrauch der Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“. Siehe dazu Die Reichstagsfraktion und die Militärvorlage. In: GW, Bd. 3, S. 267 ff.