Über den Imperialismus. Vortrag am 19. Mai 1914 in der sozialdemokratischen Mitgliederversammlung des Charlottenburger Wahlvereins
[1]Nach einem Zeitungsbericht
Mehr Selbstkritik wünscht Genossin Rosa Luxemburg in unsrer Partei, als sie kürzlich in einer Mitgliederversammlung des Charlottenburger Wahlvereins über den Imperialismus einen Vortrag hielt. Sie wies darauf hin, daß der Glaube an einen dauernden Friedenszustand verfehlt sei. Wir hätten in den jüngsten zwanzig Jahren außerhalb Europas acht blutige Kriege[2] erlebt, im Anschluß daran vier gewaltige Revolutionen.[3] Auch drei erschütternde wirtschaftliche Weltkrisen in immer kürzern Zwischenräumen [1900, 1907, 1913] seien die Folge gewesen. Die Verschärfung der Katastrophengefahr sei also nicht mehr theoretisches Hirngespinst einiger sozialistischer „Prinzipienreiter“, sondern brutale Wirklichkeit. Dieser Beschleunigung und Verschärfung der kapitalistischen Entwicklung müssen wir eine Beschleunigung und Verschärfung des sozialistischen Kampfes entgegensetzen. Die jüngste Wehrvorlage[4] in Deutschland zeige deutlich, daß die Bourgeoisie auch dann nicht an Abrüstung denke, wenn sie selbst einen Teil der Kosten für die Heeresvermehrung tragen muß. Die Bourgeoisie habe den Militarismus unbedingt nötig als Mittel der Klassenherrschaft. Es sei ganz verfehlt gewesen, daß die sozialdemokratische Fraktion im Deutschen Reichstag der Deckungsvorlage im vorigen Sommer ihre Stimmen gab. Eine sichere Bürgschaft gegen Militarismus und Imperialismus biete nur der revolutionäre Kampf des Proletariats. Um diesen wirkungsvoll zu führen, sei es vor allem notwendig, unter den Massen rücksichtslos und offen völlige Klarheit über die verschärfenden Ten-
[1] Überschrift der Redaktion. – In der RL-Bibliographie von Felix Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist der Vortrag unter Nr. 595 ausgewiesen. Den Vorwärts-Bericht, Nr. 137 vom 21. Mai 1914, der weniger auf die Kritik Rosa Luxemburgs eingeht, siehe in: GW, Bd. 3, S. 490 f.
[2] Siehe Rosa Luxemburg: Friedensutopien vom 6. Mai 1911. In: GW, Bd. 2, S. 496, wo es heißt: „Wir hatten in diesen 15 Jahren: 1895 den Krieg zwischen Japan und China, der das Präludium der ostasiatischen Periode der Weltpolitik bildete, 1898 den Krieg zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten, 1899–1902 den Burenkrieg Englands in Südafrika, 1900 den Chinafeldzug der europäischen Großmächte, 1904 den Russisch-Japanischen Krieg, 1904–1907 den deutschen Hererokrieg in Afrika; dazu kommt 1908 die militärische Intervention Rußlands in Persien, im gegenwärtigen Moment die Militärintervention Frankreichs in Marokko, ohne der unaufhörlichen Kolonialscharmützel in Asien und Afrika zu gedenken. Schon die nackten Tatsachen zeigen also, daß seit 15 Jahren beinahe kein Jahr ohne eine Kriegsaktion vergangen ist.“
[3] Revolutionen bzw. revolutionäre Erhebungen gab es in Rußland 1905/1906, im Osmanischen Reich 1908/09, in Portugal 1910, in China 1911, in Persien 1911, in Mexiko 1910–1917.
[4] Ende März 1913 war im Deutschen Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10000 M aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Deutschen Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe (dem sog. Wehrbeitrag) und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Im Namen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gab Hugo Haase vor der Abstimmung über die einzelnen Gesetze der Deckungsvorlage eine Erklärung ab, in der dem außerordentlichen Wehrbeitrag und der Besitzsteuer zugestimmt und dies als Anfang der von der Sozialdemokratie geforderten Steuerpolitik bezeichnet wurde. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß unter Mißbrauch der Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“. Siehe dazu Die Reichstagsfraktion und die Militärvorlage. In: GW, Bd. 3, S. 267 ff.