Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 850

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brechen an euch selbst, wenn ihr weiter zulaßt, daß die Völker sich zerfleischen. Wir verlassen uns ruhig darauf, daß die Brust des Arbeiters, die wir einmal für die Ideale der Völkerverbrüderung gewonnen haben, daß sie für unsere Ideale auch nicht verloren ist, wenn sie auch im Rock des Königs steckt. Und wir hoffen, daß früher oder später die Zeit kommt, kommen muß, wo wir sagen: Nein, das tun wir nicht. Heutzutage sind wir ja äußerlich noch machtlos, aber wir dürfen unsere Macht nicht unterschätzen. Derselbe Frankfurter Staatsanwalt hat gezeigt, wie sie unsere Macht bereits fühlen. Er hat ausgeführt in seiner Rede, man lasse nur ein bis zwei Dutzend entschlossene Leute in einer Kompanie sein, so würde es diesen Leuten ein Leichtes werden, noch ein bis zwei Dutzend andere auf ihre Seite zu bekommen. Das würde vollständig genügen, um eine Meuterei zu erbringen. Man denke an den niederschmetternden Eindruck, wenn der Feind die Tatsache sehen würde, daß derartige Dinge vorliegen. Dies stempelt die Angeklagte zu einer Verbrecherin.

Bis jetzt waren wir gewohnt, den deutschen Militarismus als einen Riesen zu betrachten, der seine Stärke gegen den äußeren Feind erhebt. Bei uns Deutschen heißt es ja, wir fürchten den lieben Gott im Himmel, sonst niemand in der Welt![1] Und diese gewaltige Macht von Eisen und Stahl, sie zittert vor einem Dutzend Sozialdemokraten! Man sieht, daß die ganze Herrlichkeit schon ins Wanken gerät, wenn nur ein Dutzend Sozialdemokraten in einer Kompanie sind. (Brausender Beifall.) Wir geben uns jedoch mit der Lappalie von einer Meuterei von zwölf Soldaten nicht ab. Was wir erstreben, das ist die Meuterei von Millionen Ausgebeuteter gegen die ganze Gesellschaft. Dieses Zittern beweist, wie sehr derselbe Militarismus, der als letzte Zuflucht gegen die Flut der Sozialdemokratie hingestellt wird, wie sehr er morsch ist. Es zeigt sich, daß der Militarismus bereits verloren hat. Wenn wir die sichere Hoffnung haben an dem Glauben, dann haben die Herrschenden bereits verloren. Sie beweisen uns, daß sie bereits fühlen, daß wir die Sieger sind.

Jetzt heißt es für uns, die eigene Macht nicht zu unterschätzen, jetzt heißt es mit verdoppelter Kraft gegen die Ausbeutung zu ziehen, damit der heutige Staat lieber heute als morgen in Trümmer zerfällt, denn der Lebensnerv der heutigen Gesellschaft, das ist der Mord des Menschen. (Langanhaltender Beifall.)

Freie Volkszeitung (Göppingen),

Nr. 106 vom 9. Mai 1914.

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[1] Siehe Otto von Bismarck: Rede am 6. Februar 1888 im Deutschen Reichstag. In: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichtags. VII. Legislaturperiode, II. Session 1887/88. Zweiter Band, Berlin 1888, S. 733, wo es heißt: „Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt!“