Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1012

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Die Geheimnisse eines Gefängnishofes

ges[ehen]D. 15.3.[1]

Frau Hanna-Elsbeth Stühmer, geb. Dossmann,

gewidmet, als bescheidener Dank für den

herrlichen Hyazinthentopf.[2]

Als ich das erste Mal als Schutzhaftgefangene[3] in der Barnimstraße in den sog. Lazaretthof zur Freistunde hinunterging, fand ich dort eine Dame von üppiger Gestalt, in feiner Kleidung, an den Fingern u. am Busen einen kleinen Juwelierladen, der bei jeder ihrer Bewegungen funkelte. Mürrisch, mit verkniffenem Munde und gefurchter Stirn, lief sie rastlos in dem kleinen Hof immer im Kreise; die Blicke auf den Boden geheftet, mit den lauten, klopfenden Schritten ihrer hochmodernen Stelzpantoffelchen gleichsam gegen die bittere Ungerechtigkeit der Welt und der Militärbehörde protestierend. Als sie meiner unscheinbaren Person ansichtig ward, betrachtete sie mich eine Zeitlang mit kurzsichtig zusammengekniffenen Augen, stellte sich dann doch vor u. klagte sofort laut ihr Leid. Der bekannte, typische Fall: eifersüchtige Freundinnen – alte Rache – anonyme Denunziation wegen „deutschfeindlicher Gesinnung“ – Verhaftung – Schutzhaft… „Und nun sitze ich hier in diesem elenden Loch, soll hier bei schönstem Sommerwetter sitzen, ich, die ich ohne die Natur nicht leben kann!“[4] Und sie erzählte mir, wie sie jedes Jahr eine kostspielige Reise unter-

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[1] Sichtvermerk mit roter Tinte von Dr. Ernst Dossmann, Gefängnisdirektor in der Festung Wronke, in der Rosa Luxemburg vom 26. Oktober 1916 bis 22. Juli 1917 in „militärischer Sicherheitshaft“ saß. Dieser Sichtvermerk wiederholt sich auf jedem Briefbogen der Erzählung.

[2] Am 6. März 1917, vier Tage vor der Niederschrift der Erzählung über die Geheimnisse eines Gefängnishofes vom 10. März 1917, schrieb Rosa Luxemburg an Hanna-Elsbeth Stühmer einen Brief, auf dessen linker Seite oben sich eine kleine Federzeichnung von der Rialtobrücke in Venedig befindet. In der rechten Ecke ist der Sichtvermerk vom Gefängnisdirektor, ebenfalls mit 6. 3. 17. „Sehr geehrte gnädige Frau! Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank für ihre liebenswürdigen Zeilen u. den herrlichen Blumentopf entgegen. Ich bitte Sie zu glauben, daß mir Ihre gütige Aufmerksamkeit große Freude bereitet hat. Mit besonderer Genugtuung vernehme ich, daß Sie an meinem Tierbüchlein Gefallen finden. Es wird mir stets ein Vergnügen sein, Ihnen mit Geschichten über unsere gemeinsamen vierfüßigen u. beflügelten Lieblinge, die sie so köstlich zu konterfeien wissen, – soweit mein armer Schatz reicht – dienen zu können. Mit herzlichstem Gruß Ihre ergebene Rosa Luxemburg“. Siehe SAPMO-BArch, NY 4002/23, Bl. 91, Original.

[3] Als Schutzhaftgefangene war sie im Frauengefängnis in der Barnimstraße vom 21. Juli bis 26. Oktober 1916. – Siehe S. 955 f., Fußnote 2.

[4] Unter der Überschrift Heiteres aus Gefängnissen schrieb Mathilde Jacob später u. a. von dieser Begegnung: „Die Gattin des derzeitigen belgischen Justizministers [Juliette Carton de Wiart] … wurde während des Krieges im Jahre 1915 vorübergehend in das Berliner Weibergefängnis Barnimstraße gesteckt […] Mme … wollte sich ihrer Mitgefangenen gern bemerkbar machen und pfiff, sobald sich ihr die Gelegenheit dazu bot, unter dem Zellenfenster Rosa Luxemburgs die ‚Internationale‘, in die Rosa nach wenigen Versen einstimmte.

Kurze Zeit nach dieser musikalischen Verständigung wurden die beiden Inhaftierten auf dem Gefängnishof spazieren geführt, und es gelang ihnen, die diensttuende Beamtin soweit zu gewinnen, daß sie sich trotz strengen Verbotes miteinander unterhalten konnten. Die Spaziergänge auf dem Gefängnishof wiederholten sich und damit auch die Unterhaltungen, sehr zum Entzücken der Mme…, die alles daransetzte, um zu dieser ihr so angenehmen Abwechslung in dem preußischen Kerker zu kommen.

Als Mme… nach kurzer Zeit wieder in Belgien war, erzählte sie ihren dortigen Freunden von ihrem Kerkererlebnis. Ein belgischer Redakteur fand Gefallen daran und teilte seinen Lesern das interessante Ereignis mit. So kam der Vorfall auch in die deutsche Presse, und eine hohe preußische Obrigkeit sandte eine Zeitung des strafwürdigen Inhalts an die Oberin des Gefängnisses nach der Barnimstraße. ‚O, so eine Unverschämtheit! Nein, wie die Zeitungen lügen‘, rief die Frau Oberin aus, ‚und wie dumm diese Lügen sind, Mme…sprach kein Wort deutsch, ich selbst konnte mich absolut nicht mit ihr verständigen, es ist ja völlig ausgeschlossen, daß sie sich in meinem Gefängnis unterhalten hat.‘

In ihrer heiligen Einfalt vermochte sich Frau Oberin nicht vorzustellen, daß Rosa Luxemburg ebenso gut französisch wie deutsch sprach.“ Siehe Sozialistische Politik und Wirtschaft (Berlin), Hrsg. Dr. Paul Levi, Jg. 2, Nr. 44 vom 17. Juli 1924. – Siehe auch Mathilde Jacob: Von Rosa Luxemburg und ihren Freunden in Krieg und Revolution 1914–1919. Hrsg. und eingel. von Sibylle Quack und Rüdiger Zimmermann. In: IWK, 24. Jg., Dezember 1988, Heft 4, S. 465.