nehme, um die Sonnenuntergänge in den Tiroler Alpen zu bewundern. Bis zu Tränen konnten sie diese Sonnenuntergänge rühren…
Es war klar: die Dame lebte der felsenfesten Überzeugung, daß die Natur in den Tiroler Alpen beginnt, und zwar mit einem effektvollen Sonnenuntergang. Hätte man ihr gesagt, daß sie hier, in der Barnimstrasse Nr. 10, wo sie stand u. ging, von Morgen bis Abend mitten in der Natur war, sie hätte sicher gedacht, daß man sich über sie lustig mache. Ich schwieg, lächelte höflich und empfahl mich.
Nun möchte ich Sie, schöne Dame, zu einem kleinen Spaziergang mit mir in diesem winzigen Reich der Natur einladen. Ich kenne Ihre holden Züge nicht, doch was verschlägt’s? Ich weiß genug, um das Lieblichste zu ahnen. Darf ich wie Leporello im Mozartschen Don Juan,[1] als er vor Donna Elvira das berühmte „Register“ aufrollt, mit artiger Verbeugung singen: „Edle Donia, wenn gefällig, so gehen wir’s durch, – wenn gefällig – so gehen wir’s durch!…“
Das erste, was sich an 365 Tagen beim Aufstehen meinen Blicken bot,[2] ist die graue verwitterte Rückwand mit der großen halb verwaschenen Aufschrift: „Timners Essigfabrik“. Der rußige Kamin dieses Gebäudes raucht fleißig und schwängert die Luft im Gefängnis ständig mit einem leisen süßlich-säuerlichen Geruch, der manchmal – an trüben Tagen – vernehmlich im Halse kratzt. Rechts und links von der Fabrik eine bunte Reihe ganz alter Mietshäuser, deren kleine Fenster mit schwindsüchtigen Geranientöpfen, Kanarienkäfigen u. Säuglingswäsche geziert sind u. aus denen je nachdem Kindergeschrei, Zank u. Schlägerei, Gitarrengeklimper oder ein schnarrendes Grammophon zu hören sind.
[1] Siehe Don Giovanni von Wolfgang Amadeus Mozart.
[2] Ab den 365 Tagen gehen ihre Erinnerungen und Entdeckungen in diesem literarischen Kleinod vorwiegend auf die einjährige Haftzeit vom 18. Februar 1915 bis 18. Februar 1916 zurück, zu der sie im Frankfurter Prozeß am 22. Februar 1914 verurteilt worden war. Siehe S. 921 ff.