Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 894

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Das Friedensgestade

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Wenn das Gewitter sich mit höchster Gewalt über den sturmgepeitschten Meereswogen entlädt, wenn Schiff und Mannschaft in der schwarzen Nacht dem aufgewühlten Element preisgegeben ziellos umhertreiben, erscheinen ihnen manchmal gerade zwischen krachenden Donnerschlägen im grellen Lichte eines aufleuchtenden Blitzes am Horizont die friedlichen Umrisse des rettenden Ufergestades. So scheint jetzt aus den Schrecken des Weltkrieges die erste Möglichkeit einer friedlichen Wendung aufzutauchen.

Freilich einzelne Stimmen des Hasses in der Presse predigen weiter die gegenseitige Zerfleischung der Nationen und der Staaten. In der hungrigen Phantasie dieser Leute ist Belgien schon deutsche Provinz, Holland ein deutscher Bundesstaat, vielleicht morgen Marokko eine deutsche Kolonie geworden. Von den leitenden Kreisen ist jenen Phantasten bereits ein kühlender Eimer Wasser über den Kopf geschüttet worden. Allein wir wissen, wie zäh jene Kreise an ihren Phantasien festhalten und wie gefährlich für Deutschland schon die Äußerung solcher Appetite in der Öffentlichkeit ist.

Nicht Eroberungen, sondern die Niederzwingung des russischen Zarismus war der Zweck des Krieges, wie ihn Regierung und Volksvertretung vor aller Welt in völliger Übereinstimmung proklamiert haben. Und dieser Zweck ist auch von der sozialdemokratischen Fraktion in ihrer Erklärung als das ausschlaggebende Motiv anerkannt worden, weshalb sie dem Kriege ihre Zustimmung und Mitwirkung verlieh. Nach so vielen Schlachten und Siegen, nach einer so energischen Aktion der deutschen Waffen im Westen und nunmehr auch im Osten darf man wohl die Frage stellen: Sind wir dem Ziele des Krieges näher gerückt? Der Verlauf der Dinge im Westen erlaubt allem Anschein nach die Frage zu bejahen. Die Politik der Bündnisse, die wir seit jeher kritisierten, hat es ergeben, daß als der Alliierte Rußlands gegen die deutschen Heere Frankreich im Kampffelde stand. Nunmehr ist der Widerstand dieses Alliierten in seiner Hauptmacht gebrochen, die französische Offensive ist zurückgeschlagen.[2] Lauter und deutlicher noch als die Berichte des deutschen Generalstabs

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet. Rosa Luxemburg ist aber gewiß die Autorin, denn Mathilde Jacob hat auf ihrem Exemplar handschriftlich RL vermerkt.

Nr. 1 der Sozialdemokratischen Korrespondenz (SK) war am 27. Dezember 1913 mit Rosa Luxemburgs Artikel Arbeitslos! in Berlin erschienen. Siehe GW, Bd. 3, S. 363 ff. Angekündigt worden war die SK durch Julian Marchlewski, Rosa Luxemburg und Franz Mehring am 17. Dezember 1913, nachdem es mit der Redaktion der Leipziger Volkszeitung zum Bruch gekommen war. Unter Brüskierung von Julian Marchlewski, des amtierenden Chefredakteurs der LVZ, war Anfang Oktober 1913 Rosa Luxemburgs kritischer Artikel Nach dem Jenaer Parteitag, auf dem heftige Debatten mit und über Rosa Luxemburg stattgefunden hatten, abgelehnt worden. Siehe GW, Bd. 3, S. 243 ff. und 358 f. Die SK erschien 1913/1914 dreimal wöchentlich, ab Januar bis Mai 1915 nur noch einmal wöchentlich mit der Wirtschaftlichen Rundschau von Julian Marchlewski.

Seit Beginn des Ersten Weltkrieges mit Belagerungszustand und Pressezensur signierte Rosa Luxemburg ihre Beiträge für die SK nicht mehr, um den Polizei- und Militärbehörden keine Anhaltspunkte für Anklagen zu geben.

Glücklicherweise sind viele Nummern der SK bei Mathilde Jacob erhalten geblieben. Auf ihnen befinden sich von Mathilde Jacob handschriftlich die Initialen der Autoren vermerkt. Sie hat bekanntlich die Manuskripte von Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Julian Marchlewki für die SK abgeschrieben. Ihre Sammlung der SK wurde ca. 1940/41 an die Familie von Fritz Winguth, Berlin, übergeben und ist seit den 1980er Jahren in Privatbesitz. Kopien davon befinden sich in Hoover Institution Archives, Stanford, Kalifornien/USA, in den Rosa Luxemburg and Mathilde Jacob Papers und bei Ottokar Luban, Berlin. Über die Auswertung siehe Ottokar Luban: Erstmalig identifizierte Artikel Rosa Luxemburgs in den Kriegsnummern der „Sozialdemokratischen Korrespondenz“ (August bis Dezember 1914). In: Rosa Luxemburg im internationalen Diskurs. Internationale Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in Chicago, Tampere, Berlin und Zürich (1998–2000). Hrsg. von Narihiko Ito, Annelies Laschitza und Ottokar Luban, Berlin 2002, S. 276 ff.; ders.: Mathilde Jacob – mehr als Rosa Luxemburgs Sekretärin! In: Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 6, Leipzig 2008, S. 196 ff., bes. S. 210. – Siehe auch Hannah Lotte Lund: „Ich umarme Sie mit großer Sehnsucht“, Rosa Luxemburg und Mathilde Jacob. In: Elke-Vera Kotowski, Anna-Dorothea Ludewig, Hannah Lotte Lund: Zweisamkeiten. 12 außergewöhnliche Paare in Berlin, Berlin 2016, S. 89 ff.

[2] Am 18. August 1914 hatte die allgemeine Offensive des deutschen Umfassungsflügels (1. bis 5. Armee) begonnen, die den Krieg gegen Frankreich schnell entscheiden sollte und mit der die OHL die strategische Initiative an sich riß. Unter äußersten Anstrengungen gelang es, den Versuch des französischen Heeres zunichte zu machen, den deutschen Vormarsch auf der Linie Amiens-Laon-Verdun zu stoppen. Aber der erbitterte französische Widerstand, besonders an und hinter der Maas, sowie der überraschende Gegenangriff der 5. Armee (Schlacht bei St. Quentin vom 28. bis 30. August) drohten die ausgedehnte deutsche Front zu zerreißen. Die deutsche Führung glaubte, die Einnahme von Paris stehe bevor. Am 30. August wurde über der französischen Hauptstadt eine Fahne abgeworfen, deren Inschrift großsprecherisch den Einmarsch der deutschen Truppen ankündigte. Der unaufhaltsam erscheinende Vormarsch versetzte die herrschende Klasse Deutschlands in einen chauvinistischen Taumel und wirkte auf die Bevölkerung verwirrend.