Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 897

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Der letzte Krieg

[1]

Über die Schrecken des gegenwärtigen Krieges, über die namenlosen Leiden, die er allenthalben verbreitet, trösten sich die gequälten Gemüter häufig mit dem Seufzer: Hoffentlich wird dieser Krieg der letzte sein, den die gesittete Menschheit zu erdulden hatte! Die Politik der Arbeiterklasse, die vor dem Weltkrieg als tätige Macht des Friedens die Segel gestrichen hat, verwandelt sich in eine vage Hoffnung auf eine hellere Zukunft, die irgendwie von selbst als Wunderblume des Weltfriedens aus den blutüberströmten Ruinen der Kultur emporblühen wird.

Aber die kapitalistische Gesellschaftsordnung ist kein Boden, auf dem der Friede dauernd gedeihen kann. Was als Scheinfriede jahrzehntelang die Wachsamkeit einlullte, war, – das erweist sich jetzt, – nur ein unaufhörliches unterirdisches Beben und Brodeln, aus dem der Vulkanausbruch des Weltkrieges mit nie dagewesener Heftigkeit erfolgen mußte. Die imperialistische Gier aller Großstaaten nach Kolonien und „Interessensphären“, das Rüsten um die Wette mußten mit unerbittlicher eiserner Logik den Augenblick herbeiführen, wo die Kanonen „von selbst losgingen“. Mögen die Aushängeschilder dieses Krieges Vaterland, Nation, Rasse oder wie immer heißen, seine wirkliche Wurzel ist der kapitalistische Imperialismus. Und erst wenn diese Wurzel gründlich entfernt ist, wenn die arbeitenden Millionen aller Länder Kraft und Willen genug gefunden haben, so viel Opfer an Gut und Blut an dies ihr glorreiches geschichtliches Ziel zu setzen, als sie heute auf dem Altar des Weltkrieges bringen, erst dann wird dieser Krieg vielleicht ein letzter gewesen sein. Vorläufig erscheinen andere Bilder am nächsten Horizont. Der Krieg vor 44 Jahren sollte genauso wie der jetzige den dauernden Frieden in Europa begründen.[2] Wenigstens versicherte so Bismarck. Er ließ schon Ende August 1870 in einem der offiziösen Artikel, worin er seine Politik der öffentlichen Meinung mundgerecht zu machen suchte, darlegen: „Die ungeheuren Opfer an Geld und Blut, die das deutsche Volk in diesem Kriege

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet. Rosa Luxemburg ist aber gewiß die Autorin, denn Mathilde Jacob hat auf ihrem Exemplar handschriftlich RL vermerkt.

Nr. 1 der Sozialdemokratischen Korrespondenz (SK) war am 27. Dezember 1913 mit Rosa Luxemburgs Artikel Arbeitslos! in Berlin erschienen. Siehe GW, Bd. 3, S. 363 ff. Angekündigt worden war die SK durch Julian Marchlewski, Rosa Luxemburg und Franz Mehring am 17. Dezember 1913, nachdem es mit der Redaktion der Leipziger Volkszeitung zum Bruch gekommen war. Unter Brüskierung von Julian Marchlewski, des amtierenden Chefredakteurs der LVZ, war Anfang Oktober 1913 Rosa Luxemburgs kritischer Artikel Nach dem Jenaer Parteitag, auf dem heftige Debatten mit und über Rosa Luxemburg stattgefunden hatten, abgelehnt worden. Siehe GW, Bd. 3, S. 243 ff. und 358 f. Die SK erschien 1913/1914 dreimal wöchentlich, ab Januar bis Mai 1915 nur noch einmal wöchentlich mit der Wirtschaftlichen Rundschau von Julian Marchlewski.

Seit Beginn des Ersten Weltkrieges mit Belagerungszustand und Pressezensur signierte Rosa Luxemburg ihre Beiträge für die SK nicht mehr, um den Polizei- und Militärbehörden keine Anhaltspunkte für Anklagen zu geben.

Glücklicherweise sind viele Nummern der SK bei Mathilde Jacob erhalten geblieben. Auf ihnen befinden sich von Mathilde Jacob handschriftlich die Initialen der Autoren vermerkt. Sie hat bekanntlich die Manuskripte von Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Julian Marchlewki für die SK abgeschrieben. Ihre Sammlung der SK wurde ca. 1940/41 an die Familie von Fritz Winguth, Berlin, übergeben und ist seit den 1980er Jahren in Privatbesitz. Kopien davon befinden sich in Hoover Institution Archives, Stanford, Kalifornien/USA, in den Rosa Luxemburg and Mathilde Jacob Papers und bei Ottokar Luban, Berlin. Über die Auswertung siehe Ottokar Luban: Erstmalig identifizierte Artikel Rosa Luxemburgs in den Kriegsnummern der „Sozialdemokratischen Korrespondenz“ (August bis Dezember 1914). In: Rosa Luxemburg im internationalen Diskurs. Internationale Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in Chicago, Tampere, Berlin und Zürich (1998–2000). Hrsg. von Narihiko Ito, Annelies Laschitza und Ottokar Luban, Berlin 2002, S. 276 ff.; ders.: Mathilde Jacob – mehr als Rosa Luxemburgs Sekretärin! In: Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 6, Leipzig 2008, S. 196 ff., bes. S. 210. – Siehe auch Hannah Lotte Lund: „Ich umarme Sie mit großer Sehnsucht“, Rosa Luxemburg und Mathilde Jacob. In: Elke-Vera Kotowski, Anna-Dorothea Ludewig, Hannah Lotte Lund: Zweisamkeiten. 12 außergewöhnliche Paare in Berlin, Berlin 2016, S. 89 ff. – Auch ein Brief von Rosa Luxemburg an Franz Mehring vom 8. September 1914, siehe GB, Bd. 5, S. 9, und ein Brief von Franz Mehring an Mathilde Jacob vom 12. September 1914 sprechen für Rosa Luxemburgs Autorschaft. Franz Mehring bemerkte: „Heute wollte ich eben den fälligen Artikel schreiben, als mir Frau Dr. L[uxemburg] aus Stuttgart schrieb, sie habe einen Artikel an Sie gesandt. Ich bitte Sie demgemäß, zunächst diesen Artikel zu expedieren. Ich schreibe dann fürs nächste Mal.“ Siehe Hoover Institution Archives, Stanford, Kalifornien/USA, Rosa Luxemburg and Mathilde Jacob Papers, box 3, folder 13.

[2] Am 19. Juli 1870 erklärte Frankreich Preußen den Krieg mit dem Ziel, die Einigung Deutschlands zu verhindern. Am 26. Februar 1871 erfolgte der Abschluß des Präliminarfriedensvertrages zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich in Versailles, durch den die preußisch-deutschen Eroberungsziele sanktioniert wurden: Frankreich mußte das Elsaß und einen großen Teil Lothringens mit reichen Erzvorkommen an Deutschland abtreten und innerhalb von drei Jahren fünf Mrd. Francs Kontributionen zahlen.