Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 577

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/577

1910

Beitrag auf einer der drei Protestversammlungen am 1. Februar 1910 in Berlin

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

In der Diskussion sprach Genossin Rosa Luxemburg. Sie bezeichnete die Äußerung des Januschauers[2] als revolutionär in dem Sinne, wie Lassalle sagte: Aussprechen was ist, das ist revolutionär![3] Herr v. Oldenburg hat ausgesprochen, was die herrschenden Klassen denken. Recht und Verfassung zu brechen, ist ihre Absicht. Das klassenbewußte Proletariat wird für die Verfassung kämpfen, wenn sie verschlechtert werden soll, es wird mit der Verfassung kämpfen, soweit sie uns Raum gibt zur Betätigung, und es wird gegen die Verfassung kämpfen, wenn sie so gestaltet werden sollte, daß sie eine Fessel der Volksrechte wird. Die temperamentvollen Ausführungen entfesselte ebenso wie die kernige Rede Singers stürmischen Beifall.[4]

Vorwärts (Berlin),

Nr. 27 vom 2. Februar 1910.

Nächste Seite »



[1] Überschrift der Redaktion. – Die drei überfüllten, polizeilich abgesperrten Versammlungen fanden in den Pharussälen, Müllerstraße, in den Kellerschen Festsälen, Koppenstraße, und in Schnegelbergs Festsälen in der Hasenheide statt. Rosa Luxemburg sprach in den Kellerschen Festsälen, wo Paul Singer referierte. Tausende, die keinen Einlaß fanden, liefen in Scharen die Straße in der Nähe der Lokale auf und ab.

[2] Der Konservative Elard von Oldenburg-Januschau hatte am 29. Januar 1910 in der Reichstagsdebatte über den Militäretat gesagt: „Der König von Preußen und der Deutsche Kaiser muß jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag!“ Stenographische Berichte des Reichstages, XII. Legislaturperiode, 2. Session, Bd. 259, Berlin 1910, S. 898. Gegen diese Provokation kam es in zahlreichen Städten Deutschlands zu Protestversammlungen.

[3] Ferdinand Lassalle hatte am 10. Dezember 1862 und am 12. Januar 1863 gesagt: „Dies ist die Macht des Aussprechens dessen, was ist. Es ist das gewaltigste politische Mittel! Fichte constatirt in seinen Werken, daß ‚das Aussprechen dessen, was ist‘ ein Lieblingsmittel des alten Napoleon gewesen, und in der That hat er ihm einen großen Theil seiner Erfolge verdankt. Alle große politische Action besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“ Siehe Ferdinand Lassalle: Was nun? Zweiter Vortrag über Verfassungswesen. In: Ferd. Lassalle’s Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung hrsg. von Ed. Bernstein, London, Erster Band, Berlin 1892, S. 531.

[4] Folgende Resolution wurde in allen drei Versammlungen einstimmig angenommen: „Die heutige Volksversammlung spricht ihre tiefste Entrüstung über die verbrecherischen Absichten aus, welche Herr v. Oldenburg-Januschau unter dem Beifall und der Zustimmung der herrschenden Junkerkaste in der Reichstagssitzung vom 29. Januar geäußert hat. […] Den Zusammenhalt der Arbeiterschaft zu stärken, die wenigen Volksrechte in den bevorstehenden schweren Kämpfen zu verteidigen, ist die erste Pflicht aller freiheitlich denkenden Elemente im deutschen Volke. Dies geschieht am besten, wenn die versammelten Männer und Frauen den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der modernen Arbeiterschaft beitreten, die sozialdemokratische Presse lesen und verbreiten.“