Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 992

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Offene Briefe an Gesinnungsfreunde. II. Brief. Vom Klassenkampf innen und außen von Gracchus

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Man gewinnt erst dann den richtigen Standpunkt zur Frage von Einheit und Spaltung der Partei, wenn man sich immer wieder an die ganze Bedeutung der modernen Arbeiterbewegung und an die historische Aufgabe des internationalen Sozialismus erinnert, wie sie vor dem Ausbruch des Weltkrieges von jedem Sozialdemokraten erkannt und anerkannt waren. Die internationale Sozialdemokratie war berufen, eine Weltwende herbeizuführen, in einer Generalauseinandersetzung mit der bürgerlichen Gesellschaft die tausendmal formulierte Alternative: Imperialismus oder Sozialismus zur Tat, zur Wirklichkeit werden zu lassen.

Die ganze fünfzigjährige Existenz der Sozialdemokratie, ihre ganze Organisations- und Agitationsarbeit, ihr ganzes Erziehungs- und Reformwerk war nur Vorbereitung auf diese geschichtliche Situation. Am 4. August versagte die Sozialdemokratie und entschied sich, statt für den Sozialismus, für den Imperialismus.[2] Entsprechend der gewaltigen Größe der Bedeutung und der Aufgaben, die dem Sozialismus zukamen, ist das, was die deutsche und die internationale Sozialdemokratie jetzt durchmacht, nicht eine Parteikalamität, wie etwa die mehrfachen Krisen im Schoße des bürgerlichen Liberalismus oder des katholischen Zentrums, sondern eine welthistorische Gesellschaftskrise, wie der Zerfall des Römischen Reichs im Altertum oder der Verfall der päpstlichen Kirche in dem Reformationszeitalter. Diejenigen Genossen, die jetzt der Partei am liebsten den Rücken kehren möchten, um die Verantwortung für ihr Treiben von sich zu weisen, um freie Hand zu gewinnen, ihre Korruption von außen zu bekämpfen, sündigen nicht dadurch, daß sie den Verfall der Partei zu schwarz sehen, daß sie zu radikal reinen Tisch machen wollen, sondern umgekehrt

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[1] Mit Gracchus, einem Pseudonym Rosa Luxemburgs, gezeichnet, erschienen bereits in Der Kampf (Duisburg), Nr. 31 vom 6. Januar 1917, Offene Briefe an Gesinnungsfreunde. Von Spaltung, Einheit und Austritt [d. h. de facto der I. Brief, aber nicht mit I. gekennzeichnet]. Siehe GW, Bd. 4, S. 232 ff.

* Obgleich die Frage des Austritts aus der Partei nach dem neuesten Staatsstreich des Parteivorstandes gegenstandslos werden wird, beansprucht der Artikel allgemeines Interesse angesichts der grundsätzlichen Behandlung der Mehrheit und der Mehrheitspolitik.

[2] Am 4. August 1914 hatte die sozialdemokratische Fraktion im Deutschen Reichstag unter Anwendung des Fraktionszwangs gegen die Minderheit von 14 Abgeordneten die Kriegskredite bewilligt. In der vom Parteivorsitzenden Hugo Haase vorgelesenen Erklärung der Fraktion hieß es: „Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel […] Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.“ Vorwärts (Berlin) vom 5. August 1914.