Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 578

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Die Lehren des Wahlrechtskampfes. Referat am 5. April 1910 in einer Volksversammlung in Breslau

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

Die Rednerin schickte ihrem Vortrage eine kurze Einleitung voraus, in der sie die bisherigen parlamentarischen Kämpfe um die sogenannte preußische Wahlrechtsreform skizzierte und in der sie die Haltung der Parteien in allen Stadien des Wahlrechtskampfes kurz zusammenfaßte. Ein wenig länger verweilte sie bei der Charakterisierung des Zentrums, dessen prinzipielle Stellung zur preußischen Wahlrechtsfrage bekanntlich vom Abgeordneten Herold dahin präzisiert wurde, daß das Zentrum für die Bundesstaaten dasselbe Wahlrecht fordere, wie es im Reiche üblich ist.[2] Wenn später das Zentrum dieses Prinzip mit Füßen trat und in der Kommission wie im Plenum jene elende Komödie aufführte, mit der das Volk auf die frechste Weise verhöhnt wurde,[3] so könne man ermessen, welche Lammsgeduld dazu gehört, die heuchlerischen Taten dieser Partei ertragen zu können. Was auch die allernächste Zeit an Veränderungen der Wahlrechtsvorlage bringen mag – so schloß die Rednerin ihre einleitenden Sätze – es wird nichts sein, womit die arbeitende Klasse Preußens zufrieden sein kann. Für das Proletariat gehört dieses einzigartige reaktionäre Machwerk in den Orkus.

Wie kommt es nun, so fährt Genossin Luxemburg fort, daß in Preußen eine Partei herrschen kann, die ihrer ganzen Struktur nach in das finsterste Mittelalter gehört? 1848 hatte Preußens Proletariat ein freiheitliches, demokratisches Wahlrecht erobert.[4] Aber

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[1] Anwesend waren 1200 Personen, besonders zahlreich unter ihnen Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre. Zum Thema hatte sie auch am 3. April in Gottesberg (Boguszów) und am 4. April in Liegnitz (Legnica) gesprochen. Vom 2. bis 19. April 1910 war sie im Wahlrechtskampf auf Agitationstour. Sie werde auf zwölf Versammlungen auftreten: „Breslau, Kiel, Bremen, Dortmund, Bochum, Herne, Elberfeld, Barmen, Frankfurt a. M. (7000 Personen), Hanau usw. Meine Artikel und die vorgesehenen Versammlungen haben den Vorstand so beunruhigt“, schrieb sie an Jogiches, „daß mir Bebel eine Aktion des Vorstandes gegen mich androhte; zugleich sandten sie vertraulich einen Wink an die Presse, daß über den Massenstreik nicht diskutiert werden darf.“ GB, Bd. 3, S. 129. Tatsächlich sprach sie auf mehr als zwölf Versammlungen, so auch in Solingen, Remscheid und Düsseldorf, und sie äußerte sich fast überall zu ihrer Auffassung vom politischen Massenstreik. Siehe Stenographischer Bericht über ihre Rede am 17. April 1910 in Frankfurt a. M. In: GW, Bd. 2, S. 305 ff.

[2] Das hatte er am 11. Februar 1910 zur 1. Lesung im preußischen Abgeordnetenhaus verlauten lassen und sich gegen die Vorlage ausgesprochen.

[3] Das Zentrum, in dessen offiziellem Programm die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen gefordert wurde, hatte sich am 23. Februar 1910 in der Wahlrechtskommission gemeinsam mit den Konservativen gegen die Einführung des direkten Wahlrechts ausgesprochen.

[4] Am 18. März 1848 hatten Berliner Arbeiter, Kleinbürger und Studenten den Kampf mit dem preußischen Militär aufgenommen, Barrikaden errichtet und den preußischen Truppen eine Niederlage zugefügt. Friedrich Wilhelm IV. war gezwungen worden, das Militär aus Berlin zu entfernen. Die Regierungsgewalt ging in die Hände der liberalen Bourgeoisie über. Am 8. November 1848 begann der konterrevolutionäre Staatsstreich in Preußen. Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel marschierte in Berlin Militär ein. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf. Mit dem Verzicht auf ihre in den Märzkämpfen errungenen Positionen verriet die Bourgeoisie die Revolution. Auf dieses Versagen des Liberalismus kam Rosa Luxemburg mehrfach ausführlich und kritisch zu sprechen.