Militarismus und Arbeiterklasse. Rede am 6. Mai 1914 in zwei Versammlungen in Heilbronn
Nach einem Zeitungsbericht
„Was rennt das Volk, was wälzt sich dort, die langen Gassen brausend fort.“ Es ist wahr, die Heilbronner sind verwöhnt, sie reagieren in ruhigen politischen Zeiten nur noch, wenn etwas Besonderes los ist. Gestern gab es eine Attraktion. Die Sozialdemokratie hatte Rosa Luxemburg gewonnen, die in zwei aufeinanderfolgenden Versammlungen sprach. Wir wohnten der zweiten an. Die Kilianshallen waren drückend voll; außer den Genossen ließen es sich auch andere nicht nehmen, diese Röteste der Roten in persona einmal zu sehen und zu hören. Militarismus und Arbeiterklasse hatte sie zum Thema gewählt. Was sie sagte, rührt uns wenig. Es waren die üblichen loci communes: Militarismus, „der Lebensnerv des heutigen Staates“,[1] Arbeitslosigkeit, Kapitalismus, Miliz und wie die Dinge alle heißen, wurden wieder aufgetischt, die Sozialdemokratie als die allein seligmachende Kirche der Politik gepredigt. Uns interessierte mehr das Wie und die Person. Am Tische saß eine kleine schwarze Frauensperson, ruhig, scharf der Blick, energisch der Ausdruck. Sie erhob sich und sprach bald hin- und hergehend, bald mit verschränkten Armen ruhig dastehend, in etwa einstündigem, freiem, fließendem Vortrag, mit singender, aber scharfer Stimme. Mienen- und Gebärdenspiel verlieh den Pointen Ausdruck. Der Akzent klingt wenig deutsch, stilistisch spricht sie aber gut. In einer bilderreichen Sprache weiß sie mit Ironie und Antithesen geschickt zu operieren und die Massen zu packen, die mit ihrem Beifall auch nicht zurückhielten. Wie ein roter Faden zog sich durch den ganzen Vortrag hin der Frankfurter Staatsanwalt, dem sie anscheinend seinen harten Strafantrag doch nicht verzeihen kann.[2] Sämtliche Soldatenmißhandlungen[3] mußten herhalten, als ob andere diese nicht auch verurteilten. Und wenn sie die Herren Keim und Liebert zitierte, so konnten deren Freunde sehen, welche Früchte ihre Tätigkeit zeitigt. Kampf auf Tod und Leben bis zum Untergang der bestehenden Klasse ist ihr Ideal. Alles wird anders, wenn wir eine andere Gesellschaftsordnung eingeführt haben, ruft sie pathetisch den Genossen zu. Es ist nur zu fürchten, sie muß, wie Bebel, zur Einsicht kommen, daß der große Kladderadatsch noch lange auf sich warten läßt.
Neckar-Zeitung (Heilbronn),
7. Mai 1914.
[1] Die entscheidende Passage in der Anklagerede des Staatsanwalts Dr. Hoffmann, auf die sich Rosa Luxemburg wiederholt polemisch bezog, hatte folgenden Wortlaut: „Die Angeklagte überlegt sich genau, was sie sagt. Ihre ganze Persönlichkeit ist nicht geeignet, eine milde Auffassung hervorzurufen. Sie gehört der extremsten Gruppe des radikalsten Flügels der Sozialdemokratie an. Sie ist bekannt durch ihre außerordentlich scharfen Reden. Sie trägt den Beinamen ‚die rote Rosa‘ nicht mit Unrecht. Die Frankfurter Reden zeigen, was sie in ihrem Kopfe denkt, was sie in ihrer Brust fühlt. Sie spielt mit dem Massenstreik, sie animiert zum Mord, sie fordert zur Meuterei auf. Das läßt erkennen, von welcher Todfeindschaft die Angeklagte gegen die bestehende Staatsordnung erfüllt ist. Wenn irgendeine unbekannte Agitatorin die Rede gehalten hätte, so würde sie mit einer geringen Strafe davonkommen. Aber die Angeklagte wird sich gefallen lassen müssen, daß die Strafe ihrer Bedeutung, ihrer Vergangenheit und ihrer außerordentlich starken staatsfeindlichen Gesinnung entspricht. Das Hauptwort bei der Strafe spricht nicht die Gefährlichkeit der Person, sondern die Gefährlichkeit der Tat. Die Tat ist eine ganz außerordentlich gefährliche. Damals waren gerade die Balkanwirren zu Ende. Es lag Explosivstoff in der Luft. Das wußte die Angeklagte. Um so verwerflicher war es, daß sie die Meuterei predigte, wenn es zum Kriege käme. Man lasse nur ein bis zwei Dutzend derart verhetzter entschlossener Leute in einer Kompanie sein, so würde es diesen Leuten ein leichtes werden, ein bis zwei Dutzend andere Leute auf ihre Seite zu bekommen. Das würde vollkommen genügen, um plötzlich eine Meuterei hervorzubringen. Kommt infolge einer Meuterei das Gefecht zum Stehen, dann müssen die allerschlimmsten Folgen kommen. Die Entscheidungsschlacht kann durch eine derartige plötzliche Meuterei verloren gehen. Man denke auch an den niederschmetternden Eindruck, den eine solche Meuterei im eigenen Heere und beim Feinde hervorrufen müßte. Ein einziger Fall einer solchen Meuterei vor dem Feinde kann außerordentlich schwerwiegende Folgen haben, kann unter Umständen sogar katastrophal wirken.
Das alles hat die Angeklagte gewußt. Das sind keine Hirngespinste und keine Phantasieprodukte, die zu scharfmacherischen Zwecken vorgetragen werden. Es sind lebendige Wirklichkeiten, die jeden Tag eintreten können. Die Tatsache, daß derartige Möglichkeiten vorliegen, stempeln die Tat der Angeklagten zu einer ganz außerordentlich gefährlichen. Was die Angeklagte getan hat, ist ein Attentat auf den Lebensnerv unseres Staates.“ Zitiert nach Vorwärts (Berlin), Nr. 54 vom 24. Februar 1914.
[2] Am 20. Februar 1914 war von der 1. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt (Main) ein Prozeß gegen Rosa Luxemburg durchgeführt worden, weil sie in zwei Versammlungen – in Fechenheim und in Bockenheim im September 1913 – zum Kampf gegen die Kriegsgefahr aufgerufen und die Arbeiter aufgefordert hatte, im Falle eines Krieges nicht auf ihre Klassenbrüder in Frankreich und in anderen Ländern zu schießen. Siehe S. 789 ff. und S. 792 f. Siehe auch Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse. Rosa Luxemburg vor der Frankfurter Strafkammer am 20. Februar 1914, Buchhandlung Volksstimme, Frankfurt am Main, o. D. [1914]. Rosa Luxemburgs Verteidigungsrede siehe GW, Bd. 3, S. 395 ff.
Das Urteil lautete: „Im Namen des Königs! In der Strafsache gegen Frau Rosalie Luxemburg in Berlin-Südende, Lindenstraße 2, geboren am 25. Dezember 1870 zu Zamos´c´, Bezirk Lublin in Rußland wegen Vergehens gegen § 110 Str.G.B’s, hat die 1. Strafkammer des Königlichen Landgerichts in Frankfurt a. M. in der Sitzung vom 20. Februar 1914, an welcher teilgenommen haben: Landgerichtsdirektor Heldmann als Vorsitzender, Landgerichtsrat Wurmbach, Valentin, Wagner, Gerichtsassessor Enders, als beisitzende Richter, Staatsanwaltschaftsrat Hoffmann als Beamter der Staatsanwaltschaft, Referendar Hahn als Gerichtsschreiber, für Recht erkannt:
Die Angeklagte wird wegen zweier Vergehen gegen § 110 Str.G.B. zu einer Gefängnisstrafe von 1 – einem – Jahr verurteilt. Sie trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe. Die Angeklagte, die bekannte sozialdemokratische Agitatorin, trat am 25. September 1913 in Fechenheim und am 26. September 1913 in Frankfurt-Bockenheim in öffentlichen Volksversammlungen als Rednerin auf. In beiden Versammlungen, die nach ihren eigenen Angaben von Tausenden besucht waren, sprach sie über das Thema: Die politische Situation und die Aufgabe der Arbeiterschaft.
In der Fechenheimer Versammlung empfahl sie unter Anderem auch das Milizsystem, welches dem heute herrschenden Militärsystem vorzuziehen sei, und forderte, daß den entlassenen Soldaten das Gewehr mit nach Hause gegeben werde, damit sie es im gegebenen Fall gegen den inneren Feind richten könnten’, so bekundete der Zeuge Lenz diese Äußerung, oder ‚damit sie sich im gegebenen Fall‘ – so bekunden die Zeugen Wieland und Sperzel diese Äußerung – ‚überlegen könnten, wer ihr Feind sei‘. Sie sprach dann weiter von der Möglichkeit eines Krieges und äußerte hierbei: ‚Bei einem eventuellen Krieg sollten die Arbeiter es sich überlegen, ob sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten, auf ihre Brüder im Feindesland zu schießen. Infolge des allgemeinen Zusammenschlusses der Arbeiter sei es unbedingt durchführbar, im Kriegsfalle ein entschiedenes: Nein, auf unsere Brüder schießen wir nicht, auszusprechen.‘ In dieser Form wird diese Äußerung von dem Zeugen Lenz, welcher sich Notizen während der Rede der Angeklagten gemacht hat, wiedergegeben, und auch der Zeuge Wieland gibt sie in fast der nämlichen Form wieder. Der Zeuge Sperzel, welcher die Versammlung als Polizeibeamter überwacht hat, hat diese Äußerung allerdings nicht gehört. Er gibt an, daß er einen schlechten Platz hatte, von dem aus er nicht die ganze Rede verstehen konnte.
Durch einen in den Frankfurter Nachrichten erschienenen Artikel über diese Fechenheimer Versammlung aufmerksam gemacht besuchten die Redakteure der Frankfurter Warte, die Zeugen Henrici und Eisenträger die Versammlung in Bockenheim am folgenden Tag. Henrici machte sich während der Rede der Angeklagten stenographische Notizen. Auch in dieser Versammlung empfahl die Angeklagte das Milizsystem und äußerte hierbei, jeder entlassene Soldat müsse sein Gewehr mitbekommen und am Küchenschrank hängen haben, wenn die Waffe auch einmal in einer nicht gewünschten Richtung gebraucht werden könne. Nachdem die Angeklagte dann weiter über den Massenstreik und die Wahlrechtsdemonstrationen geredet hatte, erörterte sie die Möglichkeit eines bevorstehenden Weltkrieges und äußerte hierbei wörtlich: ‚Bei einem Kriege fragen wir uns: Werden wir uns einen Krieg ungestraft gefallen lassen?‘ Aus der Versammlung ertönten hierauf Zurufe: ‚Niemals‘. Sie fuhr daraufhin fort: ‚Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen Brüder zu erheben, dann rufen wir: Das tun wir nicht.‘ Auf diese Äußerungen der Angeklagten folgte sekundenlanger Beifall und sie bildeten nach Ansicht des Zeugen Eisenträger den Höhepunkt des Vortrags.
Die Angeklagte gibt mit einer alsbald zu besprechenden Ausnahme zu, diese, ihr zur Last gelegten Äußerungen getan zu haben. Sie bestreitet aber, sich dadurch strafbar gemacht zu haben und führt aus: Einzelne ihrer Äußerungen aus dem Zusammenhang gerissen, wie sie die Zeugen wiedergegeben hätten, gäben nur ein Zerrbild von dem, was sie gesagt habe und was sie habe sagen wollen und wie auch ihre sozialdemokratischen Hörer ihre Rede aufgefaßt hätten. Sie habe nicht zum Vorgesetztenmord aufgefordert. Denn selbst wenn diese Äußerung so gefallen sei, wie sie die Zeugen bekundeten, so müsse man sich fragen, wann und gegen welche Vorgesetzte sie zum Mord aufgefordert habe. […] Sie habe aber auch die Soldaten nicht aufgefordert, den Befehlen ihrer Vorgesetzten nicht nachzukommen. […] Demnach ist tatsächlich festgestellt, daß die Angeklagte durch zwei selbständige Handlungen 1) am 25. September 1913 zu Fechenheim, 2) am 26. September 1913 zu Frankfurt a. M.-Bockenheim öffentlich vor einer Menschenmenge zum Ungehorsam gegen Gesetze aufgefordert hat. – Vergehen gegen §§ 110.74 St.G.B.- […] Die in § 95 Absatz 2 des Militärstrafgesetzbuchs angedrohten Strafen zeigen, daß das Gesetz den Ungehorsam vor dem Feind, insbesondere die Verweigerung des Gehorsams gegen einen vor dem Feind erteilten Befehl zu den schwersten Verbrechen zählt. Mit Rücksicht hierauf mußte auf eine erhebliche Strafe erkannt werden und es war eine Geldstrafe ausgeschlossen. Wenn an sich auch eine noch höhere Strafe angemessen erschien, so erachtete doch das Gericht, da die Angeklagte als Frau von einer Freiheitsstrafe härter betroffen wird, wie ein Mann für jeden der beiden, gleichliegenden Fälle eine Gefängnisstrafe von neun Monaten für ausreichend und angemessen. Die gemäß § 74 St. G. B. zu bildende Gesamtstrafe wurde auf ein Jahr bemessen. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 497 St. P. O.“ Siehe SAPMO-BArch, NY 4002/76, Bl. 148–158. – Laut Kostenrechnung der Staatsanwaltschaft, ebenda, Bl. 249, betrugen die Kosten 474,80 M.
Die Rechtsanwälte Dr. Paul Levi und Dr. Kurt Rosenfeld legten gegen das Urteil Revision ein, ebenda, Bl. 159 ff. Die Behandlung der Revision war ursprünglich für den 27. Juni 1914 vor dem 1. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig vorgesehen. Mit Schreiben vom 18. Juni 1914 wurde Rosa Luxemburg davon in Kenntnis gesetzt, daß dieser Termin aufgehoben sei und ihre Revision nunmehr am 22. Oktober 1914 vor derselben Instanz verhandelt werden sollte. In dieser Verhandlung wurde die Revision verworfen, ebenda, Bl. 192 ff. Damit war das Frankfurter Urteil vom 20. Februar 1914 rechtskräftig.
[3] Siehe Rosa Luxemburg: Notizen zur Prozeßvorbereitung über Soldatenmißhandlungen. In: GW, Bd. 7/2, S. 853 ff.