Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 792

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Gegen Militarismus und Krieg. Referat am 26. September 1913 in der „Liederhalle“ in Bockenheim

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Nach einem Zeitungsbericht

Stürmisch begrüßt beginnt sie ihr zweistündiges, oft von Beifall unterbrochenes Referat mit einem Hinweis auf die glänzende Prosperitätsperiode, der aber eine Hungerzeit ohnegleichen folge. Schritt für Schritt schildert sie dann das Wesen des kapitalistischen Klassenstaates mit seiner Unkultur und den für die schaffende Bevölkerung so trostlosen Begleiterscheinungen. Der Hunger des arbeitenden Volkes zeigt sich an allen Ecken und Enden; diese Hungerzeit aber beschleunigt das Ende der kapitalistischen Herrschaft, deren Niederringung das Endziel der Partei sein müsse. Ausführlich schildert die Rednerin die mit der heutigen Produktion in natürlichem Zusammenhang stehenden Erscheinungen von Teuerung, Hungersnot und wirtschaftlicher Krise. Jedes Wort enthält die ernste Mahnung an die Arbeiter, den Kampf gegen den Kapitalstaat plan- und organisationsmäßig zu führen. Mehr satirisch legt sie dar, wie sich die Millionäre und Fürsten über die schlechten Zeiten hinweghelfen; sie könnten gut mit den aus den Arbeitern herausgeschundenen Geldern die Wehrsteuer[2] leisten. Die Schlußausführungen waren der indirekten Steuerpolitik, der Kolonialpolitik und dem Militarismus gewidmet. Die besonders in den Kolonialkriegen[3] zutage getretenen Greuel wurden in allen Einzelheiten geschildert. Und wenn es heute noch zu keiner Auflehnung gegen diese Politik und zu Hungerrevolten gekommen ist, so lediglich deshalb, weil die Sozialdemokratie die Massen diszipliniert und aufgeklärt hat. Unter lebhafter Zustimmung gedachte die Referentin auch der Verdienste des Genossen Bebel in seiner systematisch kritischen Hervorhebung der Soldatenmißhandlungen und kam dann auch auf den Massenstreik zu sprechen. Schon zur Erringung des preußischen Wahlrechts müsse die Idee des Massenstreiks unter allen Umständen propagiert werden.[4] Die Macht der Gewerkschaften liegt nicht allein in ihren Kassen- und Kontorbüchern, sondern in den Herzen und Köpfen ihrer Mitglieder, in ihrem Solidaritätsgefühl. In dieser ernsten Zeit brauchen wir Männer und Frauen, die in guten wie in bösen Tagen treu zu uns stehen. Den Massen

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[1] Überschrift der Redaktion. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist das Referat unter Nr. 567 ausgewiesen.

[2] Ende März 1913 war im Deutschen Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10000 M aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Deutschen Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe (dem sog. Wehrbeitrag) und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Im Namen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gab Hugo Haase vor der Abstimmung über die einzelnen Gesetze der Deckungsvorlage eine Erklärung ab, in der dem außerordentlichen Wehrbeitrag und der Besitzsteuer zugestimmt und dies als Anfang der von der Sozialdemokratie geforderten Steuerpolitik bezeichnet wurde. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß unter Mißbrauch der Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“. Siehe dazu Die Reichstagsfraktion und die Militärvorlage. In: GW, Bd. 3, S. 267 ff.

[3] 1899 war in Nordchina der Volksaufstand der Ihotuan ausgebrochen, der 1900 durch die Armeen von acht Staaten unter Führung des deutschen Generals Graf von Waldersee grausam niedergeworfen wurde. Gegen die Teilnahme Deutschlands an der Intervention in China hatten z. B. August Bebel und Paul Singer am 19. und 20. November 1900 im Deutschen Reichstag protestiert und die dafür geforderten Mittel abgelehnt. Von Oktober bis Dezember 1900 veröffentlichte die sozialdemokratische Presse sog. Hunnenbriefe, Soldatenbriefe mit Berichten über die Greueltaten des Expeditionskorps in China. Bei der Besichtigung von Truppen hatte Wilhelm II. am 27. Juli 1900 in Bremerhaven eine chauvinistische, die berüchtigte „Hunnenrede“ gehalten, die in den Worten gipfelte: „Kommt Ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer Euch in die Hände fällt, sei Euch verfallen! Wie vor 1000 Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch Euch in einer Weise betätigt werden, daß niemals ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!“ – Der Aufstand der Hereros gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Südwestafrika dauerte von Anfang Januar 1904 bis 1907, dem sich im Oktober 1904 die Nama angeschlossen hatten. Unter Leitung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow war der Reichstagswahlkampf 1906/1907 durch skrupellosen Chauvinismus für die Weiterführung des Kolonialkrieges gegen die Hereros und Nama gekennzeichnet. Im Unterdrückungsfeldzug hatten die deutschen Kolonialtruppen die Eingeborenen in die Wüste getrieben und von den Wasservorkommen abgeschnitten. Generalleutnant Lothar von Trotha hatte Befehl gegeben, keine Gefangenen zu machen und auf Frauen und Kinder zu schießen, so daß die Hereros und Nama einem grausamen Tod oder unerträglichem Elend ausgeliefert waren. Rosa Luxemburg prangerte im Entsetzen über den Ersten Weltkrieg das mörderische Verbrechen der „Kulturwelt“ erneut an, „welche gelassen zugesehen hatte, als derselbe Imperialismus Zehntausende Hereros dem grausigen Untergang weihte und die Kalahariwüste mit dem Wahnsinnsschrei Verdurstender, mit dem Röcheln Sterbender füllte […] diese[r] ‚Kulturwelt‘ ist erst heute gewahr geworden, daß der Biß der imperialistischen Bestien todbringend, daß ihr Odem Ruchlosigkeit ist.“ In: GW, Bd. 4, S. 161.

[4] Siehe Rosa Luxemburg: Über den politischen Massenstreik. Vortrag auf einer internen Sitzung vor Delegierten und ausländischen Gästen des Jenaer Parteitages der deutschen Sozialdemokratie am 19. und 20. September 1913. In: GW, Bd. 7/2, S. 784 ff.; siehe auch dies.: Die Massenstreikresolution des Parteivorstandes. In: GW, Bd. 3, S. 322 ff.