Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 733

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Zum Stichwahlabkommen. Rede am 31. März 1912 in der Generalversammlung des Verbandes sozialdemokratischer Wahlvereine Berlins und Umgegend

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

In dem Bericht über die vorige Versammlung berührte mich sehr peinlich der Trost der persönlichen Gehässigkeit, den der Vertreter des Parteivorstandes in die Erörterung seiner so hochwichtigen und ernsten politischen Frage hineingetragen hat.[2] (Sehr richtig!) Auch die oberste Behörde der Partei hat keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit, und darf eine solche Reizbarkeit gegenüber einer öffentlichen Kritik nicht haben. (Sehr richtig!) Genosse Braun sagte, nur eine kapriziöse Primadonna könne behaupten, man hätte die Fortschrittler, als sie die Dämpfung unserer Agitation zu einer unerläßlichen Bedingung des Stichwahlabkommens machten,[3] in beschleunigtem Tempo die Treppe hinunter befördern sollen. Aber von verschiedenen Seiten in der Partei wurde genau dieselbe Auffassung vertreten. (Hört, hört!) Das Elberfelder Organ, die „Freie Presse“, mißbilligte schon am 17. Februar, also lange vor meinen Artikeln[4], die Dämpfungsklausel des Abkommens. Das Organ der Parteimitgliedschaft von Rüstringen, die nicht gerade im Geruch des äußersten Radikalismus steht, das „Norddeutsche Volksblatt“, verurteilt die Stichwahltaktik des Parteivorstandes. Auf der Kreisgeneralversammlung in Solingen wurde das Stichwahlabkommen von dem Referenten, Genossen Wendemuth, zwar verteidigt, aber die Dämpfungsklausel als unserer Partei unwürdig verurteilt. Die „Schwäbische Tagwacht“, gewiß nicht ein Organ des äußersten Radikalismus (heitere Zustimmung) sagt, daß solche Zumutungen sich unter keinen Umständen wiederholen dürfen, und so geht es weiter durch die Parteiblätter. Nur weil der „Vorwärts“ es unterlassen hat, Sie über das geistige Leben

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[1] Überschrift der Redaktion. Ausführlicher berichtete der Vorwärts (Berlin) in Nr. 78 vom 2. April 1912. Siehe GW, Bd. 3, S. 152 ff.

[2] Die Generalversammlung war am 17. März 1912 begonnen worden. In dieser Sitzung hatte Otto Braun versucht, das Stichwahlabkommen des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei mit der Fortschrittlichen Volkspartei zu rechtfertigen. Die Diskussion über diesen Punkt der Tagesordnung wurde in der Versammlung am 31. März 1912 weitergeführt.

[3] Für die Stichwahlen im Januar 1912 hatte der Parteivorstand mit der Fortschrittlichen Volkspartei ein geheimes Abkommen über gegenseitige Wahlhilfe abgeschlossen. Demzufolge sollte die Fortschrittliche Volkspartei in 31 Reichstagswahlkreisen die sozialdemokratischen Kandidaten unterstützen, während der Parteivorstand sich verpflichtete, in 16 Reichstagswahlkreisen „bis zur Stichwahl keine Versammlung abzuhalten, kein Flugblatt zu verbreiten, keine Stimmzettel den Wählern zuzustellen und am Wahltage selbst keine Schlepperdienste zu verrichten“. Siehe Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. IV, Berlin 1967, S. 395. – Der Freisinn existierte zwischen 1893 und 1910 als Freisinnige Volkspartei und als Freisinnige Vereinigung. Die zwei Parteien des Freisinns waren infolge der Differenzen über die Stellung zur Militärvorlage von 1892/1893 aus der Spaltung der Deutschen Freisinnigen Partei hervorgegangen. Die Freisinnige Volkspartei war eine kleinbürgerlich-liberale Partei und die eigentliche Nachfolgerin der Deutschen Fortschrittspartei von 1861. Diese hatte sich in ihrem Gründungsdokument für größte Sparsamkeit für den Militarismus im Frieden, die Aufrechterhaltung der Landwehr, die allgemein einzuführende körperliche Ausbildung der Jugend und die erhöhte Aushebung der waffenfähigen Mannschaft bei zweijähriger Dienstzeit ausgesprochen. Die Freisinnige Volkspartei besaß 1907 28 Reichtagsmandate. Die Freisinnige Vereinigung war eine großbürgerlich-liberale Partei und versuchte den freihändlerisch orientierten Gruppierungen der Bourgeoisie einen maßgeblichen politischen Einfluß zu verschaffen. Das meinte sie durch Unterstützung der Aufrüstungs- und Expansionspolitik, eine liberal-sozialreformerische Innenpolitik und Zurückdrängung des Junkertums erreichen zu können. 1908 spaltete sich eine bürgerlich-demokratische Gruppe als Demokratische Vereinigung unter dem Vorsitz von Rudolf Breitscheid von der Freisinnigen Vereinigung ab. Am 6. März 1910 vereinigten sich die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die Süddeutsche Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei, einer liberalen Partei mit flexiblerer Strategie und Taktik imperialistischer Politik, die sich von besonders konservativ-militaristischen, reaktionären Kreisen abgrenzte und im Reichstagswahlkampf 1912 42 Mandate erzielte. Ende 1918 entstand aus dem Zusammenschluß mit dem linken Flügel der Nationalliberalen und bürgerlich-demokratischen Gruppen die Deutsche Demokratische Partei.

[4] Siehe Unsere Stichwahltaktik in der Leipziger Volkszeitung, Nr. 50 bis 53 vom 29. Februar bis 4. März 1912. In: GW, Bd. 3, S. 100 ff.