Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1009

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Eine verzweifelte Galeere

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In der Not frißt der Teufel Fliegen, und der arme Lassalle, den die biederen Fortschrittler,[2] solange er lebte, nicht genug schmähen und verleumden konnten, wird ihnen jetzt zum Schutzheiligen.

Unter lebhafter Zustimmung des „Vorwärts“ weist der fortschrittliche Abgeordnete Gothein im „Berliner Tageblatt“ einen „Weg zum Wahlrecht“, nämlich zum allgemeinen Wahlrecht für den preußischen Landtag. Er empfiehlt die Oktroyierung des Reichstagswahlrechts in Preußen, zumal da das Klassenwahlrecht auf demselben Wege entstanden sei. „Das preußische Dreiklassenwahlrecht besteht nicht zu Recht, sondern zu Unrecht. Dadurch, daß es die auf seiner Grundlage gewählte Landratskammer als Recht anerkannt hat, ist es nicht Recht geworden, sondern Unrecht geblieben.“[3]

Man braucht nur einen flüchtigen Blick in die Agitationsschriften Lassalles geworfen zu haben – was man freilich bei den gegenwärtigen Redakteuren des „Vorwärts“ nicht voraussetzen darf – um zu erkennen, daß Herr Gothein sich mit diesen Sätzen eine wörtliche Anleihe bei Lassalle erlaubt hat,[4] und zwar ohne seine Quelle zu verraten. Dazu hatte er seine guten Gründe. Als nämlich schon vor Lassalles Auftreten die damaligen konservativen Führer Wagener[5] und v. Blanckenburg die Fort-

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[1] Der Artikel ist mit ♂, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen versehen, das sie auch für ihre Beiträge in der SAZ 1898 häufig verwendet hat. Siehe GW, Bd. 6, S. 129 ff. – Ausgewiesen im Beitrag von Narihiko Ito. In: Mensch sein, das heißt…Rosa Luxemburg und ihre Freunde in Geschichte und Gegenwart. Pankower Vorträge, Helle Panke e. V., Heft 69/2, S. 54. – Siehe auch S. 995, Fußnote 1.

[2] Siehe S. 80, Fußnote 8.

[3] Siehe Georg Gothein: Der Weg, dem Volk sein Recht zu geben. In: Berliner Tageblatt, Nr. 115 vom 4. März 1917.

[4] Siehe Ferdinand Lassalle: Über Verfassungswesen. In: Ferd. Lassalle’s Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung hrsg. von Ed. Bernstein, London, Erster Band, Berlin 1892, S. 481 f.

[5] Gemeint ist die Rede von Hermann Wagener in der Generalversammlung des preußischen Volksvereins am 29. Oktober 1862, in der es u. a. heißt: „Was sich heute Fortschrittspartei nennt, das ist durchaus keine Partei, sondern ein Konglomerat, was allein zusammengehalten wird durch das Band der gemeinsamen Opposition. Und auch darüber ist Ihnen von meinem Nachbar (dem bekannten Freiherrn von Blanckenburg, damals ein intimer Freund Bismarcks) bereits eine Andeutung gemacht: wir werden bald erleben, daß sich aus den Elementen, die heute nur noch mit Mühe zusammengehalten werden, zwei Elemente ausscheiden werden. Die Partei des allgemeinen Stimmrechts, die sich schon bei den letzten Wahlen ziemlich deutlich vernehmen ließ, und die Partei, die von Politik nur soweit etwas wissen will, als sie dabei mit ihrer gesellschaftlichen Stellung interessiert ist.“ In derselben Rede polemisierte Wagener auch gegen das Dreiklassenwahlsystem, das abgeschafft und durch das ständisch geordnete allgemeine Wahlrecht ersetzt werden müsse. Siehe Aus Vorbemerkung Eduard Bernsteins zu Ferdinand Lassalle: Offenes Antwort-Schreiben an das Central-Comite zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Congresses zu Leipzig. In: Ferd. Lassalle’s Reden und Schriften, S. 402 f.