Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1010

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schrittspartei mit dem Gedanken des allgemeinen Wahlrechts ein wenig zu ängstigen versuchten, hat diese sofort mit ihrem ganzen „Mannesstolz vor Königsthronen“ durch den Mund ihres Führers v. Unruh erklärt, der, so wenig er sonst bedeuten mochte, doch immerhin mehr bedeutete als Herr Gothein: „Nach dem klaren Inhalt von Artikel 115 der beschworenen Verfassung ist die Wahlverordnung vom 30. Mai 1849“ – nämlich die ungesetzliche Verordnung, die das Klassenwahlrecht oktroyierte – „ein integrierender Teil der Verfassung geworden. Jede Abänderung des Wahlgesetzes im Verordnungswege ist also unleugbar ein Verfassungsbruch. Wir können nicht annehmen, daß die Regierung einem vollkommen ruhigen, fest am Gesetze haltenden Volke gegenüber zu einem für das Rechtsbewußtsein und die Machtstellung Preußens so folgenschweren Schritte raten werde, und sind fest überzeugt, daß des Königs Majestät einem solchen Rate nicht stattgeben würde.“[1] Als dann Lassalle mit seiner bündigen Beweisführung auftrat, erscholl das fortschrittliche Geschrei nur um so wilder über den „Söldling der Reaktion“, der die Arbeiter ins Lager der Regierung führen wolle.[2]

Man sollte denken, jedes sozialdemokratische Blatt, das von Herrn Gotheins Vorschlag überhaupt Notiz nimmt, müßte vor allem die Leichenfledderei geißeln, die er mit Lassalle treibt, und mindestens nachweisen, daß wenn der politische Zweck, den Lassalle mit seiner an sich durchaus richtigen Beweisführung verfolgte, selbst unter den damaligen Verhältnissen sehr problematisch war, so der Vorschlag des Herrn Gothein unter den heutigen Verhältnissen barer Unsinn ist. Wir möchten den preußischen Ministerpräsidenten sehen, der dem ostelbischen Junkertum durch einen formalen Staatsstreich – denn beschworen ist die preußische Verfassung, so wie sie liegt und steht, allerdings durch den König von Preußen – das Dreiklassenwahlrecht ent-

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[1] Hans Victor von Unruh hatte in seiner Rede am 27. Januar 1863 im Haus der Abgeordneten erklärt: „Es ist damit [Nur 27 Prozent der Bevölkerung hatten an der Wahl teilgenommen.] angedeutet – ich weiß nicht, ob es auch ausdrücklich gesagt ist, – daß das Abgeordnetenhaus eigentlich nicht den wahren Willen des Landes repräsentiere. Das nötigt mich, mit ein paar Worten auf die Entstehung und auf die Bestimmungen des Wahlgesetzes hinzudeuten. Das Wahlgesetz, meine Herren, ist nicht wie andere Gesetze in der folgenden Zeit verfassungsmäßig entstanden, das Wahlgesetz ist oktroyiert; es ist von dem Ministerium oktroyiert, welches die National-Versammlung und die Zweite Kammer im April 1849 auflöste. Das Wahlgesetz legt, offenbar mit Absicht und, wie sich damals auch gezeigt hat, mit Erfolg, die ganze Entscheidung, die ganze Wucht, in die Hände der besitzenden Klassen; indem es die Wähler in drei Klassen teilt, und den ersten beiden Steuerstufen, von den ersten beiden Wählerklassen, zwei Drittel der Wahlmänner wählen läßt, haben diese die Entscheidung.“ Siehe Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 22. Dezember 1862 einberufenen Häuser des Landtages. Haus der Abgeordneten. Erster Band, Berlin 1863, S. 58.

[2] Siehe Ferdinand Lassalle: Über Verfassungswesen, III. Macht und Recht. In: Ferd. Lassalle’s Reden und Schriften, S. 550.