Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 769

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/769

Gebärstreik?. Diskussionsbeitrag am 22. August 1913 in einer sozialdemokratischen Versammlung in der „Neuen Welt“ in Berlin

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

Ich will weder als Arzt, noch als Moralprediger, sondern einfach als Sozialdemokratin hier sprechen. Am wenigsten habe ich heute hier gehört von unserm Endziel, unserm Leitstern. Die heutige Versammlung ist ein tief beschämendes Beispiel dafür, wie sehr die sozialistische Aufklärung in Berlin noch vernachlässigt ist, wenn es möglich ist, daß eine derartige Losung, wie die des Dr. Moses[2], hier Beifall finden kann. (Beifall und Widerspruch.) Es ist ein trauriger Beweis für die Oberflächlichkeit und Flachheit der Auffassung, wenn Dr. Moses hier solchen Beifall gefunden hat. Da muß man sich fast denken, daß Marx und Lassalle in Deutschland umsonst gepredigt haben! Der von Lassalle in wenigen Jahren zur Strecke gebrachte Genossenschaftsapostel Schulze-Delitzsch war ein Riese im Vergleich zu den Aposteln des Gebärstreiks[3]; er appellierte wenigstens noch an eine gemeinsame soziale Aktion, während man hier die Mittel zur Hilfe – im privaten Schlafzimmer sucht. (Heiterkeit und: Sehr gut!) Man appelliert an die Denkfaulheit und Kurzsichtigkeit der Massen. (Bravo! Und: Oho!) Man will dem Militarismus die Opfer verweigern, die heute aufgefordert werden, auf Vater und Mutter zu schießen. Glauben Sie durch den Gebärstreik das Los eines einzigen Arbeiters zu verbessern? Damit würden Sie nach ihrer Meinung doch auch nur das Los der Nichtgeborenen verbessern, wir aber kämpfen doch für die Lebenden und nicht für die, die nicht geboren werden dank den Ratschlägen des Dr. Moses! (Große Heiterkeit!) Lassen wir uns doch unsre Leidenschaft von dem wirklich großen Kampf nicht ablenken! Wo waren die ungeheuren Massen, die heute hier versammelt sind, als es vor wenigen Monaten galt, gegen den Militarismus zu kämpfen?

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[1] Dieser Beitrag ist in der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), unter Nr. 557 ausgewiesen. Er befindet sich auch als Abschrift in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, Verz. 1, Nr. 156 archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten Gesammelten Werke Rosa Luxemburgs, von denen in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts nur drei Bände erscheinen konnten.

[2] Dr. Moses trat in zahlreichen Volks- und Parteiversammlungen dafür ein, daß die proletarischen Frauen den Kampf der Arbeiterklasse dadurch unterstützen sollten, indem sie dem Staat keine Soldaten, dem Kapital keine Arbeiter liefern – also für eine Beschränkung der Geburtenzahl im Proletariat waren.

[3] Franz Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883) war als bürgerlicher Ökonom Mitbegründer der Deutschen Fortschrittspartei und Mitglied des Vereins für Socialpolitik gewesen.