Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 834

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Militarismus und Volksfreiheit. Rede am 21. März 1914 in einer Volksversammlung in München

Nach einem Zeitungsbericht

Mars regiert heute in Preußen-Deutschland die Minister, die Parlamente und, wie es scheint, regiert er auch in den Gerichtssälen. Die Dame Justitia hat die Waage mit dem Knüppel ausgewechselt. Und wer nach den Vorkommnissen in Zabern[1] noch zweifeln könnte, daß der Militarismus, der Feldwebelgeist im Lande der Dichter und Denker herrscht, braucht nur meinen Freund und Gewährsmann, den Frankfurter Staatsanwalt, zu befragen. Der hat in der Einfalt seines Gemütes ausgesprochen: Ein Sozialdemokrat, der heute gegen den Krieg, gegen den Militarismus, gegen die Brutalität des Militärgeistes das Volk aufrüttelt, der ist ein Staatsverbrecher (Pfui!), dem mindestens ein Jahr Gefängnis gebührt, weil er sich am Lebensnerv des Staates vergreift. Selten ist das innerste Wesen unserer heutigen Gesellschaftsordnung in so krasser Weise vor aller Welt enthüllt worden, wie in jenem Frankfurter Gerichtssaal, wo ein Vertreter der Staatsordnung erklärte, daß der Lebensnerv des Staates der Militarismus ist.

Wir leben in einer Zeit der furchtbarsten Arbeitslosigkeit. In Bayern hat sogar die Regierung, allerdings erst unter kräftigem Druck der Sozialdemokraten, diesen allgemeinen Notstand anerkennen müssen. Aber zu der Zeit, da zehntausende und aberzehntausende fleißige Arbeiter mit ihren Familien nicht wissen, womit sie morgen ihre hungrigen Kinder speisen sollen – Arbeiter, die nicht durch ihre Schuld in Not gerieten, sondern Opfer sind einer verkehrten Gesellschaftsordnung, die Millionen rackern läßt, damit eine Handvoll Schlemmer von Geburt bis zum Tod ein arbeitsloses Leben führen können –, in dieser Zeit erklärt ein offizieller Vertreter des Staates, der Lebensnerv dieses Staates ist nicht die Speisung der Hungrigen, nicht die Unterstützung der in Not Geratenen, sondern es ist der Militarismus: Bajonette, Kanonen, Kasernen, Kadavergehorsam der Soldaten. (Pfui!)

Schon diesen Gewinn aus dem letzten Prozeß können wir mit Dank quittieren. Ich kann mir nicht denken, daß es noch Denkfaule und Blinde unter den proletarischen Massen in Deutschland gibt, denen die Augen nicht aufgehen über das ganze brutale Wesen des heutigen Staates. Eine Gesellschaftsordnung, die so offen bekennt, daß keine moralischen Bande sie mehr mit den Massen verbinden, daß nicht der Wohlstand der Massen, nicht Aufklärung, nicht freiwillige Liebe zum Vaterland, nicht der kulturelle Aufstieg der Millionen, die sich Deutsche nennen, der Lebensnerv des

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[1] Unter der Überschrift Ein Telegramm des Kronprinzen veröffentlichte die Sozialdemokratische Partei-Correspondenz (Berlin), 9. Jg., Nr. 2 vom 24. Januar 1914, S. 26: „Da nunmehr feststeht, daß der Kronprinz die durch ein Pariser Blatt verursachte Meldung von einem Telegramme an den Obersten v. Reuter nicht dementieren ließ, soll auch die Version veröffentlicht werden, die uns von eingeweihter Seite mitgeteilt wurde. Danach hat der Kronprinz an den General v. Deimling, nicht an den Obersten v. Reuter, zwei Telegramme gerichtet. Das erste datiert schon vor den Ereignissen vom 28. November und lautet: ‚Immer feste drauf! Friedrich Wilhelm Kronprinz!‘“ Im November 1913 war es in Zabern (Unterelsaß) zu schweren Ausschreitungen des preußischen Militärs gegenüber den Einwohnern gekommen, die gegen die Beschimpfung der Elsässer durch einen Leutnant der Garnison protestiert hatten. Der Regimentskommandeur Oberst von Reuter ließ die Demonstrationen der Bevölkerung mit Waffengewalt auseinanderjagen und Verhaftungen vornehmen. Diese Vorgänge lösten in ganz Deutschland, selbst bei Teilen des Bürgertums, einen Entrüstungssturm gegen die Militärkamarilla aus, und der Deutsche Reichstag mißbilligte nach heftigen Debatten mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen die Stellung der Regierung, die die Vorgänge zu bagatellisieren versuchte. Oberst von Reuter, gegen den vom 5. bis 8. Januar 1914 vor einem Kriegsgericht in Straßburg verhandelt wurde, wurde von aller Schuld freigesprochen und im Januar 1914 vom deutschen Kaiser demonstrativ mit einem Orden dekoriert. Das zweite Telegramm datierte vom 29. November und lautete: „Bravo! Friedrich Wilhelm, Kronprinz!“