Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 695

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Hungersnot, Kriegshetze und die nächsten Reichstagswahlen. Rede am 20. September 1911 auf einer öffentlichen Volksversammlung in Burg

Nach einem Zeitungsbericht

Wohin wir den Blick auch wenden: überall Hunger und Teuerung, meist auch gepaart mit der auffallendsten Rechtlosigkeit der Besitzlosen. Die Hungerkrawalle stehen auf der Tagesordnung. Und wenn in Deutschland sich noch nichts ereignet hat, was in Österreich, Frankreich, England u. a. den Herrschenden die schlotternde Angst ins Gebein gejagt hat,[1] dann haben wir das der glänzenden Disziplin und Erziehungsarbeit der deutschen Sozialdemokratie zu danken. (Sehr richtig!) Selbst in bürgerlichen Kreisen[2] beginnt ein wenig etwas wie Opposition? Allerdings wird uns ein Bundesgenosse von dieser Seite nicht werden, solange man unsre Forderung, auch der Frau die wirtschaftlichen und politischen Rechte eines Staatsbürgers einzuräumen, eine Überspanntheit heißt. Man komme nicht mit dem Einwand, der Frau mangeln die Fähigkeiten. Die proletarische Frau, die unter den heutigen Löhnen und Lebensmittelpreisen das Budget der Familie verwaltet, beweist mehr Finanzkunst als alle preußischen und deutschen Finanzminister zusammen. (Heiterkeit und Sehr gut!) Woher haben wir die Teuerung? In der Geschichte erscheint sie uns sehr häufig als die Nachfolgerin oder Begleiterin von Mißernten, Pest und Krieg. Von alledem ist aber doch gegenwärtig nichts vorhanden, abgesehen von einer strichweisen Minderernte. Aber wir haben ein Junkertum und eine herrschende Kaste, die uns mittels Zöllen und Steuern und mit der Gesetzgebung das Leben verteuert, die uns mehr anliegen wie Mißernte, Pest und Krieg zusammen. (Großer Beifall.) Es sind zwei Richtungen, nach denen das Volk getreten und brutalisiert wird: Mit der immer mehr steigenden Verteuerung aller Nahrungs- und Genußmittel geht Hand in Hand eine immer mehr zunehmende Bekämpfung der einzigen Partei, die gegen die Verteuerung des Volksunterhalts protestiert, der Sozialdemokratie. Seit der Durchpeitschung des Hungerzolltarifs in der Adventnacht 1902[3] und seit der Finanzreform 1909[4] sehen wir deutlicher als zuvor diese Tendenz. Rednerin zeigt an der Hand reichen Zahlenmaterials, daß Millionen und Abermillionen, Milliarden jährlich den Junkern und all den Werkzeugen des heutigen Staates, dem Militarismus, Marinismus usw., gezahlt werden müssen.

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[1] In Wien war es z. B. am 17. September 1911 bei einer Demonstration gegen die Teuerung, an der sich etwa 120000 Personen beteiligten, zu einem Zusammenstoß mit der Polizei und dem eingesetzten Militär gekommen. Dabei wurde eine Person getötet, 83 Personen wurden verletzt.

[2] Ein Wort unleserlich.

[3] Zollgesetz und Zolltarif mit einer enormen Erhöhung der Agrar- und einiger Industriezölle waren am 14. Dezember 1902, der denkwürdigen Adventsnacht, im Deutschen Reichstag mit 202 gegen 100 Stimmen beschlossen worden und ab 1. März 1906 in Kraft getreten. Danach sollten die Großhandelspreise 1906 bis 1910 im Vergleich zu 1901 bis 1905 für Roggen um 21, Weizen 19, Hafer 18, Kartoffeln zwei, Ochsen 13, Schweine 14 und für Butter um 8 Prozent steigen. Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die drohende Verschlechterung der Lebenslage für die Mehrheit der Bevölkerung eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes bekannt geworden waren. Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. dreieinhalb Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegen die Vorlage des Bundesrates begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Fraktion hatte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage gekämpft. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 Mal das Wort. In der 2. Lesung sprach August Bebel allein 24 Mal.

[4] Am 10. Juli 1909 war im Deutschen Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei angenommen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.