Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 707

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Der Massenstreik vor dem Reichstag

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Der Schluß der Marokkoverhandlungen im Reichstag gestaltete sich zu einer konzentrierten Attacke der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie. Vergessen war plötzlich der Kolonialvertrag zwischen Deutschland und Frankreich,[2] vergessen die Absage der Reichsregierung an die nationalistische Kriegshetze und der Gram der gezüchtigten Junker, der enttäuschten Zentrumsleute wie der unzufriedenen Freisinnigen.[3] Der Katzenjammer der bürgerlichen Parteien machte sich Luft in einem Angriff auf den einzigen wirklichen gemeinsamen Feind – auf die Vertretung der Arbeiterklasse. Soweit hat der dritte Tag der Verhandlungen bestätigt, was immer mehr mit erfreulicher Deutlichkeit an die Oberfläche tritt: Mag man die parlamentarische Situation einstellen wie man will, die momentanen Zerwürfnisse im bürgerlichen Lager wie die scheinbare gelegentliche Gemeinsamkeit der politischen Linie zwischen der Sozialdemokratie und einem Teil jenes Lagers müssen schon im nächsten Augenblick als Schall und Rauch verschwinden vor der elementaren Tatsache des alles beherrschenden Klassengegensatzes. Weniger Genugtuung kann man freilich empfinden über die Art und Weise, wie diesmal dem Angriff von unsrer Fraktion begegnet wurde. Näher besehen war der Vorwand zu der Attacke von bürgerlicher Seite ziemlich unglücklich gewählt. Welches Verbrechens wurde da die Sozialdemokratie geziehen? Der Absicht, im Falle der kriegerischen Mobilmachung die Mannschaften zur Verweigerung der Dienstpflicht aufzufordern oder den Krieg durch einen Massenstreik zu verhindern. Eine solche Absicht wäre sicher, falls sie zu einem greifbaren Entschluß werden sollte, eine in den Augen jedes preußischen Staatsanwalts höchst verwerfliche Tat. Auch in den Augen der bürgerlichen Prozentpatrioten oder der von ihnen noch ganz verdummten Volksschichten mag dies ein verdammenswertes Verbrechen sein. Allein die Denkweise des preußischen Staatsanwalts und des nationalliberalen Panzerplattenfabrikanten oder des „christlich“ verhetzten Kleinbauern ist zum Glück nicht ein Maßstab für die Beurteilung politischer Fragen durch die sonstige Welt. In den Augen urteilsfähiger Massen der arbeitenden Bevölkerung in Stadt und Land konnte die Bekundung dieser schrecklichen Absichten der

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Nach einem Brief vom 14. November 1911 an Kostja Zetkin ist Rosa Luxemburg die Verfasserin. Siehe GB, Bd. 4, S. 123.

[2] Während der Marokkokrise hatten der französische Botschafter in Deutschland, Jules Cambon, und der Staatssekretär des Äußeren, Alfred von Kiderlen-Wächter, hinter verschlossenen Türen über Kompensationen im Kolonialbesitz verhandelt. Diese Verhandlungen führten am 4. November 1911 zu den Marokko- und Kongoabkommen zwischen Deutschland und Frankreich. Im Marokkoabkommen stimmte Deutschland der Beherrschung Marokkos durch Frankreich zu, während Frankreich das Prinzip der „offenen Tür“ für Marokko garantierte. Im Kongoabkommen wurde ein Gebietsaustausch in Äquatorialafrika vereinbart, durch den Deutschland gegen Territorien im Tschadgebiet einen zwar größeren, wirtschaftlich aber wertlosen Teil von Französisch-Kongo erhielt.

[3] Siehe Rosa Luxemburg: Kriegshetze im Reichstag. In: GW, Bd. 7/2, S. 701 ff.