Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 826

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Militarismus und Volksfreiheit. Rede am 8. März 1914 auf einer Kundgebung in Karlsruhe

Nach einem Zeitungsbericht

So erfreulich der überaus zahlreiche Besuch auch der hiesigen Versammlung ist, so beschleicht mich dennoch ein wehmütiges Gefühl, denn es fehlen noch ein paar Männer: mein Frankfurter Staatsanwalt und die fünf Herren Richter, die mich verurteilt haben. Ich würde ihnen herzlich gern einen Blick gönnen in die gefüllten Hallen, damit sie sehen, wie es um jene Heimatlose steht, die sie dem Gefängnis überantwortet haben,[1] damit sie sehen, daß jeder Streich, der gegen die Sozialdemokratie geführt worden ist, noch immer auf seinen Urheber zurückgefallen ist. Allerdings, wenn man mein „Verbrechen“ und das Urteil, mit dem es gesühnt werden soll, mit den Augen der heutigen Gesellschaft betrachtet, so muß ich bekennen, ich habe ein Kapitalverbrechen begangen. Ich habe in meiner Frankfurter Versammlung getan, was jeder sich seiner Pflicht bewußte Sozialdemokrat tut, ich habe den Arbeitern diesseits und jenseits der Grenze zugerufen: „Du sollst nicht töten.“

Weil diese Lehre, die als eine christliche Lehre, als ein Kirchengebot von so vielen Kanzeln in unserem christlichen Staate gepredigt wird, weil wir Sozialdemokraten uns herausnehmen, dieses Gebot ernst zu nehmen, deshalb heißt es: Fort mit diesen Verbrechern ins Gefängnis. Der Staatsanwalt hat seine Anklage gegen meine antimilitaristische Agitation in einem Wort zusammengefaßt, das ausreichen sollte, die Strafe für mein Vergehen zu verteidigen, er hat gesagt: „Die Angeklagte hat ein Attentat auf den Lebensnerv des heutigen Staates ausgeführt.“[2] Das sind goldene Worte, die mehr geeignet sind, aufklärend, aufrüttelnd in den weitesten Volkskreisen zu wirken, als zehn sozialdemokratische Flugblätter. Der Militarismus ist der Lebensnerv des Staates! Wir leben in einer Zeit, wo Zehntausende und Hunderttausende hungriger Proletarierfamilien als Opfer einer verrückten Gesellschaftsordnung leiden, die die einen zum Darben verurteilt, damit die anderen im Luxus schwelgen können. Und in diesem Augenblick erklärt der Staatsanwalt nicht die geistige und materielle Hebung dieser darbenden Volksmassen als den Lebensnerv des Staates, sondern die Kanonen, in der Zeit, wo die große Volksmasse an Bildungshunger leidet, erklärt der Staatsanwalt, und die Richter bestätigen es durch die Annahme seines Strafantrages: Nicht die Bildung ist der Lebensnerv des Staates, sondern der Kadavergehorsam des gemeinen Man-

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[1] Am 20. Februar 1914 war von der 1. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt (Main) ein Prozeß gegen Rosa Luxemburg durchgeführt worden, weil sie in zwei Versammlungen – in Fechenheim und in Bockenheim im September 1913 – zum Kampf gegen die Kriegsgefahr aufgerufen und die Arbeiter aufgefordert hatte, im Falle eines Krieges nicht auf ihre Klassenbrüder in Frankreich und in anderen Ländern zu schießen. Siehe auch Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse. Rosa Luxemburg vor der Frankfurter Strafkammer am 20. Februar 1914, Buchhandlung Volksstimme, Frankfurt am Main, o. D. [1914]. Rosa Luxemburgs Verteidigungsrede siehe GW, Bd. 3, S. 395 ff.

Das Urteil lautete: „Im Namen des Königs! In der Strafsache gegen Frau Rosalie Luxemburg in Berlin-Südende, Lindenstraße 2, geboren am 25. Dezember 1870 zu Zamos´c´, Bezirk Lublin in Rußland wegen Vergehens gegen § 110 Str.G.B’s, hat die 1. Strafkammer des Königlichen Landgerichts in Frankfurt a. M. in der Sitzung vom 20. Februar 1914, an welcher teilgenommen haben: Landgerichtsdirektor Heldmann als Vorsitzender, Landgerichtsrat Wurmbach, Valentin, Wagner, Gerichtsassessor Enders, als beisitzende Richter, Staatsanwaltschaftsrat Hoffmann als Beamter der Staatsanwaltschaft, Referendar Hahn als Gerichtsschreiber, für Recht erkannt:

Die Angeklagte wird wegen zweier Vergehen gegen § 110 Str.G.B. zu einer Gefängnisstrafe von 1 – einem – Jahr verurteilt. Sie trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe. Die Angeklagte, die bekannte sozialdemokratische Agitatorin, trat am 25. September 1913 in Fechenheim und am 26. September 1913 in Frankfurt-Bockenheim in öffentlichen Volksversammlungen als Rednerin auf. In beiden Versammlungen, die nach ihren eigenen Angaben von Tausenden besucht waren, sprach sie über das Thema: Die politische Situation und die Aufgabe der Arbeiterschaft.

In der Fechenheimer Versammlung empfahl sie unter Anderem auch das Milizsystem, welches dem heute herrschenden Militärsystem vorzuziehen sei, und forderte, daß den entlassenen Soldaten das Gewehr mit nach Hause gegeben werde, damit sie es im gegebenen Fall gegen den inneren Feind richten könnten’, so bekundete der Zeuge Lenz diese Äußerung, oder ‚damit sie sich im gegebenen Fall‘ – so bekunden die Zeugen Wieland und Sperzel diese Äußerung – ‚überlegen könnten, wer ihr Feind sei‘. Sie sprach dann weiter von der Möglichkeit eines Krieges und äußerte hierbei: ‚Bei einem eventuellen Krieg sollten die Arbeiter es sich überlegen, ob sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten, auf ihre Brüder im Feindesland zu schießen. Infolge des allgemeinen Zusammenschlusses der Arbeiter sei es unbedingt durchführbar, im Kriegsfalle ein entschiedenes: Nein, auf unsere Brüder schießen wir nicht, auszusprechen.‘ In dieser Form wird diese Äußerung von dem Zeugen Lenz, welcher sich Notizen während der Rede der Angeklagten gemacht hat, wiedergegeben, und auch der Zeuge Wieland gibt sie in fast der nämlichen Form wieder. Der Zeuge Sperzel, welcher die Versammlung als Polizeibeamter überwacht hat, hat diese Äußerung allerdings nicht gehört. Er gibt an, daß er einen schlechten Platz hatte, von dem aus er nicht die ganze Rede verstehen konnte.

Durch einen in den Frankfurter Nachrichten erschienenen Artikel über diese Fechenheimer Versammlung aufmerksam gemacht besuchten die Redakteure der Frankfurter Warte, die Zeugen Henrici und Eisenträger die Versammlung in Bockenheim am folgenden Tag. Henrici machte sich während der Rede der Angeklagten stenographische Notizen. Auch in dieser Versammlung empfahl die Angeklagte das Milizsystem und äußerte hierbei, jeder entlassene Soldat müsse sein Gewehr mitbekommen und am Küchenschrank hängen haben, wenn die Waffe auch einmal in einer nicht gewünschten Richtung gebraucht werden könne. Nachdem die Angeklagte dann weiter über den Massenstreik und die Wahlrechtsdemonstrationen geredet hatte, erörterte sie die Möglichkeit eines bevorstehenden Weltkrieges und äußerte hierbei wörtlich: ‚Bei einem Kriege fragen wir uns: Werden wir uns einen Krieg ungestraft gefallen lassen?‘ Aus der Versammlung ertönten hierauf Zurufe: ‚Niemals‘. Sie fuhr daraufhin fort: ‚Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen Brüder zu erheben, dann rufen wir: Das tun wir nicht.‘ Auf diese Äußerungen der Angeklagten folgte sekundenlanger Beifall und sie bildeten nach Ansicht des Zeugen Eisenträger den Höhepunkt des Vortrags.

Die Angeklagte gibt mit einer alsbald zu besprechenden Ausnahme zu, diese, ihr zur Last gelegten Äußerungen getan zu haben. Sie bestreitet aber, sich dadurch strafbar gemacht zu haben und führt aus: Einzelne ihrer Äußerungen aus dem Zusammenhang gerissen, wie sie die Zeugen wiedergegeben hätten, gäben nur ein Zerrbild von dem, was sie gesagt habe und was sie habe sagen wollen und wie auch ihre sozialdemokratischen Hörer ihre Rede aufgefaßt hätten. Sie habe nicht zum Vorgesetztenmord aufgefordert. Denn selbst wenn diese Äußerung so gefallen sei, wie sie die Zeugen bekundeten, so müsse man sich fragen, wann und gegen welche Vorgesetzte sie zum Mord aufgefordert habe. […] Sie habe aber auch die Soldaten nicht aufgefordert, den Befehlen ihrer Vorgesetzten nicht nachzukommen. […] Demnach ist tatsächlich festgestellt, daß die Angeklagte durch zwei selbständige Handlungen 1) am 25. September 1913 zu Fechenheim, 2) am 26. September 1913 zu Frankfurt a. M.-Bockenheim öffentlich vor einer Menschenmenge zum Ungehorsam gegen Gesetze aufgefordert hat. – Vergehen gegen §§ 110.74 St.G.B.- […] Die in § 95 Absatz 2 des Militärstrafgesetzbuchs angedrohten Strafen zeigen, daß das Gesetz den Ungehorsam vor dem Feind, insbesondere die Verweigerung des Gehorsams gegen einen vor dem Feind erteilten Befehl zu den schwersten Verbrechen zählt. Mit Rücksicht hierauf mußte auf eine erhebliche Strafe erkannt werden und es war eine Geldstrafe ausgeschlossen. Wenn an sich auch eine noch höhere Strafe angemessen erschien, so erachtete doch das Gericht, da die Angeklagte als Frau von einer Freiheitsstrafe härter betroffen wird, wie ein Mann für jeden der beiden, gleichliegenden Fälle eine Gefängnisstrafe von neun Monaten für ausreichend und angemessen. Die gemäß § 74 St. G. B. zu bildende Gesamtstrafe wurde auf ein Jahr bemessen. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 497 St. P. O.“ Siehe SAPMO-BArch, NY 4002/76, Bl. 148–158. – Laut Kostenrechnung der Staatsanwaltschaft, ebenda, Bl. 249, betrugen die Kosten 474,80 M.

Die Rechtsanwälte Dr. Paul Levi und Dr. Kurt Rosenfeld legten gegen das Urteil Revision ein, ebenda, Bl. 159 ff. Die Behandlung der Revision war ursprünglich für den 27. Juni 1914 vor dem 1. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig vorgesehen. Mit Schreiben vom 18. Juni 1914 wurde Rosa Luxemburg davon in Kenntnis gesetzt, daß dieser Termin aufgehoben sei und ihre Revision nunmehr am 22. Oktober 1914 vor derselben Instanz verhandelt werden sollte. In dieser Verhandlung wurde die Revision verworfen, ebenda, Bl. 192 ff. Damit war das Frankfurter Urteil vom 20. Februar 1914 rechtskräftig.

[2] Unter der Überschrift Ein Telegramm des Kronprinzen veröffentlichte die Sozialdemokratische Partei-Correspondenz (Berlin), 9. Jg., Nr. 2 vom 24. Januar 1914, S. 26: „Da nunmehr feststeht, daß der Kronprinz die durch ein Pariser Blatt verursachte Meldung von einem Telegramme an den Obersten v. Reuter nicht dementieren ließ, soll auch die Version veröffentlicht werden, die uns von eingeweihter Seite mitgeteilt wurde. Danach hat der Kronprinz an den General v. Deimling, nicht an den Obersten v. Reuter, zwei Telegramme gerichtet. Das erste datiert schon vor den Ereignissen vom 28. November und lautet: ‚Immer feste drauf! Friedrich Wilhelm Kronprinz!‘“ Im November 1913 war es in Zabern (Unterelsaß) zu schweren Ausschreitungen des preußischen Militärs gegenüber den Einwohnern gekommen, die gegen die Beschimpfung der Elsässer durch einen Leutnant der Garnison protestiert hatten. Der Regimentskommandeur Oberst von Reuter ließ die Demonstrationen der Bevölkerung mit Waffengewalt auseinanderjagen und Verhaftungen vornehmen. Diese Vorgänge lösten in ganz Deutschland, selbst bei Teilen des Bürgertums, einen Entrüstungssturm gegen die Militärkamarilla aus, und der Deutsche Reichstag mißbilligte nach heftigen Debatten mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen die Stellung der Regierung, die die Vorgänge zu bagatellisieren versuchte. Oberst von Reuter, gegen den vom 5. bis 8. Januar 1914 vor einem Kriegsgericht in Straßburg verhandelt wurde, wurde von aller Schuld freigesprochen und im Januar 1914 vom deutschen Kaiser demonstrativ mit einem Orden dekoriert. Das zweite Telegramm datierte vom 29. November und lautete: „Bravo! Friedrich Wilhelm, Kronprinz!“