Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 794

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Massenstreik und Steuerfrage. Referat am 29. September 1913 in der Mitgliederversammlung des sozialdemokratischen Vereins in Hanau

Nach einem Zeitungsbericht

Unsere Stellungnahme zu dem soeben beendeten Parteitage[1] macht es uns zu einer der wichtigsten Aufgaben, den Massenstreik und die Steuerfrage in Partei- und Gewerkschaftsversammlungen zu diskutieren. Natürlich gehen wir mit demselben Eifer auf die Maifeierfrage, Arbeitslosenfürsorge usw. ein. Ich muß es entschieden zurückweisen, wenn man uns den Vorwurf macht, wir hätten letztere Fragen nebensächlich behandelt. Es ist ganz erklärlich, daß diese zwei neuen Probleme, wie Massenstreik und Steuerfrage, in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wurden. Unsere ganze Entwicklung stellt uns vor die Alternative: entweder unsere Ohnmacht zu gestehen, oder zu neuen Waffen zu greifen. Wenn die Mehrheit des Parteitages sich in der Frage des Massenstreiks für die Vorstands-[2] und in der Steuerfrage für die Resolution

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[1] Der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands fand vom 14. bis 20. September 1913 in Jena statt. Siehe GW, Bd. 3, S. 328 ff.

[2] Die Resolution des Parteivorstandes hatte folgenden Wortlaut: „Nach dem vom Mannheimer Parteitag (1906) bestätigten Beschluß des Jenaer Parteitages (1905) ist die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung gegebenenfalls als eines der wirksamsten Mittel zu betrachten, nicht nur um Angriffe auf bestehende Volksrechte abzuwehren, sondern um Volksrechte neu zu erobern.

Die Eroberung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts zu allen Vertretungskörpern ist eine der Vorbedingungen für den Befreiungskampf des Proletariats. Das Dreiklassenwahlrecht entrechtet die Besitzlosen nicht nur, sondern hemmt sie in allen ihren Bestrebungen auf Verbesserung ihrer Lebenshaltung, es macht die schlimmsten Feinde gewerkschaftlicher Betätigung und sozialen Fortschritts, die Junkerkaste, zum Beherrscher der Gesetzgebung.

Darum fordert der Parteitag die entrechteten Massen auf, im Kampfe gegen das Dreiklassenwahlrecht alle Kräfte anzuspannen in dem Bewußtsein, daß dieser Kampf ohne große Opfer nicht siegreich durchgeführt werden kann.

Indem der Parteitag den Massenstreik als unfehlbares und jederzeit anwendbares Mittel zur Beseitigung sozialer Schäden im Sinne der anarchistischen Auffassung verwirft, spricht er zugleich die Überzeugung aus, daß die Arbeiterschaft für die Erringung der politischen Gleichberechtigung ihre ganze Kraft einsetzen muß. Der politische Massenstreik kann nur bei vollkommener Einigkeit aller Organe der Arbeiterbewegung von klassenbewußten, für die letzten Ziele des Sozialismus begeisterten und zu jedem Opfer bereiten Massen geführt werden. Der Parteitag macht es deshalb den Parteigenossen zur Pflicht, unermüdlich für den Ausbau der politischen und gewerkschaftlichen Organisationen zu wirken.“ Siehe Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Jena vom 14. bis 20. September 1913, Berlin 1913, S. 557 f. Diese Resolution wurde gegen zwei Stimmen angenommen. Eine Anzahl Delegierter stimmte weder für noch gegen die Resolution, da über den Antrag von Sozialdemokraten des Wahlkreises Niederbarnim, den sie für den wichtigeren hielt, noch nicht abgestimmt worden war. Dieser Antrag wurde aber nach der Annahme der Parteivorstandsresolution für erledigt erklärt. Siehe ebenda, S. 338.