Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 665

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Tolstoi

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„Jeder kommt auf seinem Wege zur Wahrheit, eins aber muß ich sagen: das, was ich schreibe, sind nicht nur Worte, sondern ich lebe danach, darin ist mein Glück und damit werde ich sterben.“[2] Mit diesen Worten hat Tolstoi vor etwa zehn Jahren seinen Aufsatz „Über den Sinn des Lebens“ geschlossen, und sein Tod hat für die Aufrichtigkeit seiner Worte Zeugnis abgelegt. Nachdem Tolstoi sein ganzes Leben lang darum gerungen hat, die Wahrheit zu erkennen und das eigene Leben streng mit seiner Erkenntnis in Einklang zu bringen, rafft er sich, ein 82jähriger Greis, noch beim Nahen des Todes auf – zu einer verzweifelten Flucht aus den Fesseln des bürgerlichen Familienlebens, einem alten erblindeten Adler gleich, der sich mit einer letzten Kraftanstrengung zum Fluge erhebt, um mit zerbrochenen Flügeln bei Wind und Nebel auf eine fremde Scholle zu fallen und zu sterben.

Tolstoi war der größte Künstler der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nicht bloß in der russischen, sondern in der Weltliteratur. In seinen Novellen und Romanen – „Die Kosaken“, „Sewastopol“, „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“, „Auferstehung“ – wie in dem Drama „Macht der Finsternis“ hat er für Rußland die gewaltigste Epopöe des gesellschaftlichen Lebens von Anbeginn bis zum Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts geschaffen, die irgendeins von den modernen Völkern aufzuweisen vermag. In der Zeit des bürgerlichen Niederganges der Kunst, die sich in ihrer inneren Zerfaserung zu einem großen Roman, wie auch zu einem großen Drama nicht mehr aufraffen kann, bewahrte sich Tolstois einsames Genie die machtvollen künstlerischen Mittel eines epischen Dichters, und in seinen Händen bekam bis zuletzt das anspruchloseste Traktätchen und die schlichteste Erzählung den Stempel klassischer Einfachheit, Geschlossenheit und Größe. Doch nicht Rußland allein, die ganze soziale Geschichte eines Jahrhunderts spiegelt sich in seinem Lebenswerk. Tolstoi sah und schilderte in den tausend Gestalten, die sich in seinen Werken tummeln – eine bunt bewegte Menge aus allen Schichten der Gesellschaft –, vor allem den Menschen mit seinen Leidenschaften, mit seinem Glück und seiner Qual. Geburt

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet. Rosa Luxemburgs Autorschaft ergibt sich aus Briefen an Kostja Zetkin zwischen dem 25. November und 5. Dezember 1910. Siehe GB, Bd. 3, S. 264 ff. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist der Artikel unter Nr. 488 ausgewiesen.

[2] Leo Tolstoi: Die Sklaverei unserer Zeit. Mit einem Nachwort: Über den Sinn des Lebens, Wien–Klosterneuburg o. J. [1921], S. 78.