Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 666

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und Tod, Liebe und Eifersucht, Kindheit und Greisenalter waren Probleme, zu denen er in den verschiedensten Formen immer wieder zurückkehrte. Alle menschlichen Leidenschaften, Schwächen und Stimmungen hatte er künstlerisch gefaßt. Und wenn man von Goethes „Faust“ sagen kann, daß er im Grunde genommen ein Kompendium des menschlichen Lebens ist, so bilden die echt russischen Werke Tolstois in ihrer Art ein zweites.

Der Künstler ist aber bei Tolstoi nicht zu trennen von der Persönlichkeit, also auch nicht von dem Kämpfer. Beide bedingen einander in ihrer Größe. Tolstoi hat sich in der allgemeinen Dekadenz der bürgerlichen Gesellschaft – gleichsam über dem Strom der Zeit stehend – seine künstlerische Anschauung zur Erfassung des Gesamtlebens bewahrt. Die Kraft dazu hat er aus demselben Wesen seiner großen Persönlichkeit geschöpft, das ihm gleichzeitig als Wahrheitssuchendem, Forscher und Kämpfer bis zum letzten Atemzug den Mut gab, den gesellschaftlichen Problemen mit offenen Augen gegenüberzutreten und seine Gedanken mit der Unerschrockenheit eines alttestamentarischen Propheten und beispielloser Wahrheitsliebe laut zu bekennen. Es war derselbe ewig suchende soziale Forscher und der große Charakter mit seinem dem arbeitenden Volke, den Ausgebeuteten und Unterdrückten restlos ergebenen Herzen, der den tiefsten Sinn des Lebens in all seinen Gestalten aufspürte und künstlerisch festhielt. Der Schöpfer der herrlichen „Anna Karenina“ wie des nach Veilchen duftenden „Eheglücks“ und der kranke Greis, der aus dem väterlichen Herrensitz floh, um „wie ein Bauer zu sterben“, waren ein und dieselbe Persönlichkeit, eine große Gestalt, neben der sich ganze Scharen gefeierter Koryphäen der Politik, der Wissenschaft und der Kunst, der patentierten „großen Männer“ wie ein Rudel Affen ausnehmen.

Das große Problem, das Tolstoi sein ganzes Leben lang beschäftigte, war die soziale Ungerechtigkeit und die Mittel zu ihrer Beseitigung. Es waren die Ungeheuerlichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft, die ihn auf Schritt und Tritt empörten und zum tiefen Nachdenken zwangen. Das arbeitsreiche Leben der Armen, der Müßiggang und das hohle, fade Dasein der reichen Ausbeuter, die schreienden Greuel des Krieges und des Militarismus, die Verlogenheit der bürgerlichen Ehe, die Heuchelei der offiziellen Kirche, der Druck des Steuersystems und der Bürokratie, Erziehung, Kunst, Wissenschaft in der Verzerrung, zu der die heutige Gesellschaft sie verurteilt – alles regte den rastlosen Forscher unermüdlich an, alles unterzog er seiner ätzenden Analyse und Kritik. Er hatte der bürgerlichen Gesellschaft einen unerbittlichen Krieg angesagt und blieb ihr Todfeind bis zu seinem letzten Atemzug. In seinen ersten großen Romanen läßt er seine Helden mitten in der Handlung kapitellange Betrachtungen über soziale Probleme anstellen, über das Mittel, Armut und Ungleichheit auszurotten. In den siebziger Jahren kommt er zu der Überzeugung, daß die ganze heutige Kunst – seine eigenen herrlichen Werke eingeschlossen – ein eitles parasitäres Luxusding sei, weil sie für die große Masse des arbeitenden Volkes unzugänglich, ein

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