Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 764

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Zum Jenaer Parteitag. Diskussionsrede am 13. August 1913 auf dem sozialdemokratischen Zahlabend in Mariendorf1

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Nach einem Zeitungsbericht

In der Diskussion bemerkte Genossin Rosa Luxemburg, der Referent [Scholz-Neukölln] hätte sich das Aufsuchen von Gründen für den Stillstand der Organisation sehr leicht gemacht. Nicht soziale Ursachen allein trügen die Schuld daran, daß die Organisation keine Fortschritte gemacht habe. In allen Teilen des Reiches sei eine Stimmung vorhanden, die darauf schließen lasse, daß wir mit anderen Mitteln die Massen zu fesseln und zu beleben suchen müßten. Auch die großen Demonstrationsversammlungen, in denen nach dem Vortrage die schablonenhafte Annahme einer Resolution erfolge, seien nicht dazu angetan, indifferente Kreise für unsere Sache zu gewinnen. Wenn von einem Redner gesagt worden sei, die Leitung der Partei sei nicht mehr so wie früher, so sage sie, Rednerin, die Leitung sei immer noch dieselbe. Betont werden müsse, daß die veränderten politischen Verhältnisse, die Zuspitzung des Klassenkampfes und die im Zunehmen begriffenen imperialistischen Tendenzen der Kapitalistenklasse von der Leitung mehr berücksichtigt werden müßten. Die Taktik der Fraktion in der Militär- und Deckungsvorlage passe wie die Faust aufs Auge.[2] Unser Ideal sei: Aufhebung der indirekten und Ersatz durch direkte Steuern, soweit dieselben zur Erhaltung des Staates notwendig seien, aber keinen Pfennig für den Moloch Militarismus. Die Stellungnahme der Fraktion zur Deckung der Militärvorlage bedeute nicht eine Aufhebung der indirekten Steuern, sondern eine Neubelastung des Volkes, weil letzten Endes indirekt die große Masse doch die Zeche bezahlen müsse.

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[1] Überschrift der Redaktion.

[2] Ende März 1913 war im Deutschen Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10000 M aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Deutschen Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe (dem sog. Wehrbeitrag) und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Im Namen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gab Hugo Haase vor der Abstimmung über die einzelnen Gesetze der Deckungsvorlage eine Erklärung ab, in der dem außerordentlichen Wehrbeitrag und der Besitzsteuer zugestimmt und dies als Anfang der von der Sozialdemokratie geforderten Steuerpolitik bezeichnet wurde. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß unter Mißbrauch der Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“. Siehe dazu Rosa Luxemburg: Die Reichstagsfraktion und die Militärvorlage. In: GW, Bd. 3, S. 267 ff.