Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 908

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Die Aufgabe der Arbeiterpresse

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Es heißt gewissermaßen von einer Utopie sprechen, wenn man sich heute über die Aufgabe der Arbeiterpresse auslassen will. Wie die Presse überhaupt, so steht besonders die Arbeiterpresse unter einer Zensur, wie sie selbst in vormärzlicher Zeit [1848] nicht bestanden hat; damit ist sie aber in die Unmöglichkeit versetzt, die Aufgaben zu erfüllen, die ihr unter normalen Zuständen gestellt sind.

Ob diese Zensur notwendig ist oder nicht, darüber kann man verschiedener Meinung sein. Indessen wenn wir einmal voraussetzen, daß sie notwendig sein sollte, so bleibt immerhin noch ein gewisser Spielraum übrig, innerhalb dessen sich die Arbeiterpresse bewegen kann. Sie kann gezwungen werden, zu schweigen, aber sie kann nicht gezwungen werden, zu reden. Sie mag sich einem Gebote fügen, das sie nicht zerbrechen kann, aber sie braucht den Tyrannen nicht zu übertyrannen. Mit anderen Worten: Wenn sie den Sieg der deutschen Waffen nur in den ihr gezogenen Grenzen fördern kann, so soll sie auch innerhalb dieser Grenzen ihre Würde zu wahren verstehen und sich nicht zu Ausschreitungen hinreißen lassen, die, von allem andern abgesehen, den Sieg der deutschen Waffen eher gefährden als fördern.

Leider wird ein Teil der Arbeiterpresse dieser, vom proletarischen Standpunkt aus ganz selbstverständlichen Forderung nicht gerecht. So liegt uns ein Arbeiterblatt vor, das nicht nur gegen die „verruchten Pläne des wort- und treubrüchigen Blutzaren“[2] – eine Sprache, die dem Genossen Liebknecht übel bekommen ist, als noch Mut dazu gehörte, sie zu führen[3] – vom Leder zieht, sondern auch gegen „die verschlagenen

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet. Rosa Luxemburg ist aber gewiß die Autorin, denn Mathilde Jacob hat auf ihrem Exemplar handschriftlich RL vermerkt.

Nr. 1 der Sozialdemokratischen Korrespondenz (SK) war am 27. Dezember 1913 mit Rosa Luxemburgs Artikel Arbeitslos! in Berlin erschienen. Siehe GW, Bd. 3, S. 363 ff. Angekündigt worden war die SK durch Julian Marchlewski, Rosa Luxemburg und Franz Mehring am 17. Dezember 1913, nachdem es mit der Redaktion der Leipziger Volkszeitung zum Bruch gekommen war. Unter Brüskierung von Julian Marchlewski, des amtierenden Chefredakteurs der LVZ, war Anfang Oktober 1913 Rosa Luxemburgs kritischer Artikel Nach dem Jenaer Parteitag, auf dem heftige Debatten mit und über Rosa Luxemburg stattgefunden hatten, abgelehnt worden. Siehe GW, Bd. 3, S. 243 ff. und 358 f. Die SK erschien 1913/1914 dreimal wöchentlich, ab Januar bis Mai 1915 nur noch einmal wöchentlich mit der Wirtschaftlichen Rundschau von Julian Marchlewski.

Seit Beginn des Ersten Weltkrieges mit Belagerungszustand und Pressezensur signierte Rosa Luxemburg ihre Beiträge für die SK nicht mehr, um den Polizei- und Militärbehörden keine Anhaltspunkte für Anklagen zu geben.

Glücklicherweise sind viele Nummern der SK bei Mathilde Jacob erhalten geblieben. Auf ihnen befinden sich von Mathilde Jacob handschriftlich die Initialen der Autoren vermerkt. Sie hat bekanntlich die Manuskripte von Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Julian Marchlewki für die SK abgeschrieben. Ihre Sammlung der SK wurde ca. 1940/41 an die Familie von Fritz Winguth, Berlin, übergeben und ist seit den 1980er Jahren in Privatbesitz. Kopien davon befinden sich in Hoover Institution Archives, Stanford, Kalifornien/USA, in den Rosa Luxemburg and Mathilde Jacob Papers und bei Ottokar Luban, Berlin. Über die Auswertung siehe Ottokar Luban: Erstmalig identifizierte Artikel Rosa Luxemburgs in den Kriegsnummern der „Sozialdemokratischen Korrespondenz“ (August bis Dezember 1914). In: Rosa Luxemburg im internationalen Diskurs. Internationale Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in Chicago, Tampere, Berlin und Zürich (1998–2000). Hrsg. von Narihiko Ito, Annelies Laschitza und Ottokar Luban, Berlin 2002, S. 276 ff.; ders.: Mathilde Jacob – mehr als Rosa Luxemburgs Sekretärin! In: Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 6, Leipzig 2008, S. 196 ff., bes. S. 210. – Siehe auch Hannah Lotte Lund: „Ich umarme Sie mit großer Sehnsucht“, Rosa Luxemburg und Mathilde Jacob. In: Elke-Vera Kotowski, Anna-Dorothea Ludewig, Hannah Lotte Lund: Zweisamkeiten. 12 außergewöhnliche Paare in Berlin, Berlin 2016, S. 89 ff. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist der Beitrag unter Nr. 611 ausgewiesen. – Zwei kurze Briefe Franz Mehrings an Mathilde Jacob vom 12. und 24. Oktober 1914 könnten eine kleine Ungewißheit aufkommen lassen. „Würden Sie wohl die Freundlichkeit haben“, schrieb Mehring am 12. Oktober 1914, „die beifolgende Kleinigkeit zu vervielfältigen etwa in 20 Exemplaren und mir möglichst bald nebst Rechnung zu überreichen.“ Siehe Hoover Institution Archives, Stanford, Kalifornien/USA, Rosa Luxemburg and Mathilde Jacob Papers, box 3, folder 15. Bei den 20 Exemplaren könnte es sich auch um andere Schriftstücke handeln. Und am 24. Oktober 1914 steht: „,Politik‘ ist richtig! Besten Dank!“ Ebenda, folder 17. Auch wenn auf dem Exemplar der betreffenden SK mit den von Mathilde Jacob angebrachten Initialen RL das Wort „Politik“ auf dem Rand handschriftlich vermerkt ist, muß sich Mehrings Hinweis nicht darauf beziehen. Es gibt nur einen zeitlichen, aber keinen direkten Anhaltspunkt zum Titel und Inhalt der Nr. 110 der SK. Mathilde Jacob hat sich über die Autorschaft Rosa Luxemburgs sehr wahrscheinlich nicht geirrt. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist der Beitrag unter Nr. 614 ausgewiesen. Empört schrieb Rosa Luxemburg am 1. November 1914 an Hans Diefenbach von „der unerhörten Degradation der Presse“ und erklärte ihm u. a.: „Freilich herrscht einstweilen der ‚Burgfrieden‘. Aber im stillen leben wir mit den Südekums etc. wie Hunde und Katzen, und die Stimmung wird überhaupt immer lebendiger. Mich reizt das Problem rein theoretisch und schriftstellerisch sehr.“ Siehe GB, Bd. 5, S. 21. – In den Gesammelten Schriften Franz Mehrings, Bd. 15, S. 644 f. wurde der Artikel vermutlich irrtümlich, ohne Quellenbeleg für die Autorschaft Mehrings, abgedruckt.

[2] Aus unserem Berufe. Seeleute. In: Courier. Zentralorgan für die Interessen der im Handels-, Transport- und Verkehrsgewerbe beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands. Publikations-Organ des Deutschen Transportarbeiter-Verbandes (Berlin), 18 Jg., Nr. 38 vom 25. Oktober 1914, S. 426.

[3] Gemeint ist Karl Liebknechts Engagement für die politischen Gefangenen Rußlands, die Zar Nikolaus II. 1913 anläßlich des 300. Herrschaftsjubiläums der Romanows von der Amnestie ausgeschlossen hatte. Zusammen mit Wilhelm Buchholz, Minna Cauer, Oskar Cohn und Bernhard Kampffmeyer verfaßte er einen zündenden Aufruf Für die politischen Gefangenen Rußlands. Dieser wurde als Protesterklärung gegen den Zaren vom 25. November 1913 von fast allen Führern der II. Internationale und weit über 500 Schriftstellern, Künstlern, Musikern, Wissenschaftlern, Universitätsprofessoren, Pastoren sowie Politikern und Parlamentariern bürgerlicher Parteien unterschrieben. Noch im November 1913 bildete sich der Deutsche Hilfsverein für die politischen Gefangenen und Verbannten Rußlands, dessen vielköpfigem Beirat Karl Liebknecht angehörte. Siehe auch Bericht und Resolutionsentwurf über die russischen Gefängnisgreuel gegen den Zarismus für den Internationalen Sozialistenkongreß in Wien 1914, der nicht stattfand. In: Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Band VII, Berlin 1971, S. 422 ff. – Annelies Laschitza: Die Liebknechts. Karl und Sophie – Politik und Familie, Berlin 2007, S. 226 ff.