Diskussionsbeitrag zum Balkankrieg in der Sitzung des ISB am 28. Oktober 1912 in Brüssel
[1]Rosa Luxemburg stimmt Vaillant[2] zu: Wir müssen vor allem über die Taktik des Proletariats in der Kriegsfrage sprechen.[3] Ich glaube, daß wir seit 1905 wissen, wo die wahre Schutzwehr gegen den Zarismus zu suchen ist. Die revolutionäre Bewegung des russischen Proletariats ist die Schutzwehr gegen die Kriegsgefahr. Das müssen wir aussprechen. Das ist keine Abstraktion, denn die Wahlen, die Massenstreiks beweisen es. Wir haben in Polen die Probemobilisierung gehabt. Dort müßten im Kriegsfall Polen gegen Polen kämpfen. Wir Sozialdemokraten haben schon ein Manifest herausgegeben, worin wir offen erklären, daß dem Krieg bloß die Aktion des Proletariats entgegengesetzt werden kann.[4] In den anderen Ländern stehen die Dinge analog. Wir müssen uns von der Stuttgarter Resolution inspirieren lassen.[5] Mit bloßen Protesten und Manifesten ist indes wenig getan. Wir müssen aussprechen 1., daß der jetzige Krieg der Einzelfall einer allgemeinen Tendenz der kapitalistischen Entwicklung ist, 2., daß die Massenaktion notwendig ist, 3., daß das Proletariat seine Aktion verschärfen
[1] Überschrift der Redaktion. – Die ISB-Sitzung diente der Vorbereitung des Außerordentlichen Internationalen Sozialistenkongresses in Basel, der am 24./25. November 1912 stattfand.
[2] Der französische Sozialist Marie-Édouard Vaillant hatte als besonders wichtig betont, aus dem Balkankrieg keinen europäischen Krieg werden zu lassen.
[3] Von Oktober 1912 bis Mai 1913 führten Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro Krieg gegen das Osmanische Reich, der mit dessen Niederlage endete. Dieser Krieg war in seiner Haupttendenz ein nationaler Befreiungskrieg gegen die osmanische Fremdherrschaft auf dem Balkan. Infolge der Einmischung der imperialistischen Großmächte gefährdete er den Frieden in Europa. Siehe auch S. 790, Fußnote 3.
[4] Der Aufruf des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 14. Oktober 1912 zum Protest gegen den Balkankrieg war im Vorwärts (Berlin), Nr. 241 vom 15. Oktober erschienen. In ihm hieß es: „Unsere Parteigenossen müssen auf der Hut sein und jede Gelegenheit ergreifen, um in wuchtigen Demonstrationen für den Weltfrieden einzutreten. […] Nieder mit dem Krieg!“
[5] Gemeint ist die vom Internationalen Sozialistenkongreß 18. bis 24. August 1907 in Stuttgart einstimmig angenommene Resolution Bebels, die durch Anträge von Rosa Luxemburg, Lenin und Martow den wichtigen Schlußpassus erhielt: „Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind in den beteiligten Ländern die Arbeiter und ihre parlamentarischen Vertreter verpflichtet, alles aufzubieten, um den Ausbruch des Krieges durch Anwendung entsprechender Mittel zu verhindern, die sich je nach Verschärfung des Klassenkampfes und der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern und steigern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, sind sie verpflichtet, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, um die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttelung der Volksschichten und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen.“ Siehe GW, Bd. 2, S. 235 ff., insbes. S. 236.