Die politische Situation und die Aufgaben der Arbeiterklasse. Referat in Volksversammlungen am 24. September 1913 in Fechenheim und am 25. September 1913 in Hanau
Nach einem Zeitungsbericht
In diesem Jahre der Jahrhundertfeiern[1] zeigt sich das Deutsche Reich in bengalischem Lichte der zivilisierten Welt als das Land der Zufriedenen und Glücklichsten unter der Sonne. Wie unter der Zeit Wilhelms II. in Deutschland der Reichtum gewachsen ist, zeigt eine Statistik. Danach vermehrte sich der Reichtum des deutschen Volkes im Jahre 1895 um 22–25 Milliarden Mark – und heute beträgt das Mehr 40 Milliarden im Jahre. Im Rummel der Jahrhundertfeiern preist die deutsche Bourgeoisie diesen Reichtum; aber der sozialdemokratische Parteitag in Jena mußte sich mit einer tiefernsten Frage eingehend beschäftigen, nämlich der Arbeitslosenfürsorge. Wir gehen einer allgemeinen Krise entgegen, wie wir sie noch nicht mitgemacht haben und die alle früheren in den Schatten stellt. Was eine Krise für das arbeitende Volk zu bedeuten hat, das wissen nur die arbeitenden Massen. Bereits in der Blüte der kapitalistischen Prosperität haben wir ja den Hungerschrei vernommen. 1911 hatten wir ja die Hungerrevolten in Belgien, Frankreich und Österreich, wo es zu lebhaften Zusammenstößen zwischen der Polizei und dem hungernden Proletariat kam. In Deutschland hatten wir zwar keine Hungerrevolten. Daß es bei uns nicht so weit kam, verdanken wir nur der Sozialdemokratie, die durch ihre Aufklärungsarbeit dem Volke zeigt, daß durch Revolten der Hunger nicht zu steuern ist. Das ist die Kehrseite der Medaille. In Deutschland ist die Not allgemeine Regel geworden. Nicht anders steht es in anderen Staaten. Die Lebenshaltung der arbeitenden Klasse wird immer mehr herabgedrückt. Die Löhne sind nicht so gestiegen, daß sie zu den anschwellenden Ausgaben im Verhältnis standen. Trotz dieser großen Not im arbeitenden Volke beobachteten wir die wahnsinnigste Entfaltung des Imperialismus. Der Deutsche Reichstag nahm eine beispiellose Militärvorlage an,[2] die in keinem andern Staate eine Ähnlichkeit finden läßt. Wenn die herrschenden Klassen damit prahlen, daß sie auf dem Altar des Militarismus einen Wehrbeitrag von einer Milliarde leisten, so ist das lächerlich. Wir wissen, was aus den Ärmsten der Armen für den Militarismus her-
[1] Am 14. Juni 1913 wurde das 25jährige Regierungsjubiläum Wilhelms II. mit großen Feiern monarchistisch-militaristischen Charakters begangen. Zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig fand vom 16. bis 18. Oktober 1913 die Gedenkfeier statt. Die Sozialdemokratie führte in Leipzig Massenversammlungen unter der Losung „Gegen Geschichtslügen, Byzantinismus und Völkerschlachtsrummel“ durch. Zar Nikolaus II. beging das 300jährige Herrschaftsjubiläum der Romanows in Rußland.
[2] Ende März 1913 war im Deutschen Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10000 M aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Deutschen Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe (dem sog. Wehrbeitrag) und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Im Namen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gab Hugo Haase vor der Abstimmung über die einzelnen Gesetze der Deckungsvorlage eine Erklärung ab, in der dem außerordentlichen Wehrbeitrag und der Besitzsteuer zugestimmt und dies als Anfang der von der Sozialdemokratie geforderten Steuerpolitik bezeichnet wurde. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß unter Mißbrauch der Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“. Siehe dazu Die Reichstagsfraktion und die Militärvorlage. In: GW, Bd. 3, S. 267 ff.