Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 788

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im allgemeinen gesprochen, ein viel schnelleres Steigen der politischen und ökonomischen Macht der Bourgeoisie als derjenigen des Proletariats, und im besonderen: Wachstum der reaktionären Ideen.

Bei der augenscheinlichen Zunahme der großindustriellen und großfinanziellen Macht glauben wir, daß die Gegensätze sich noch verschärfen werden. Soweit ich dann urteilen kann, wird das Proletariat noch oft Gewalt wider Gewalt stellen müssen. Ich rate also dazu, in erster Linie unsere alte Taktik weiter zu befolgen, bei unseren Betrachtungen zu rechnen auf den ungünstigsten Fall, das heißt auf die Verschärfung des Klassenkampfes, und daher auch das Mittel des politischen Streiks wenigstens nicht deshalb zu verwerfen, weil die ökonomische Entwicklung uns schon von selber dahin führen werde, wo wir hingelangen wollen. (Lebhafter Beifall.)

Der mit stellenweise lebhaftem Beifall aufgenommene Vortrag der Genossin Luxemburg dauerte 1 ¼ Stunde.[1]

LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 15909, Bl. 193-197 R.

Erstveröffentlichung von Auszügen aus dem Vortrag durch Ottokar Luban in: Rosa Luxemburgs Engagement für den politischen Massenstreik. Zwei bisher unveröffentlichte parteiinterne Ansprachen im Sommer 1913. In: Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 6, Leipzig 2008, S. 122-126.

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[1] Im seinem Vortrag sah Friedrich Ebert den politischen Massenstreik in Ländern für zweckmäßig an, in denen das Proletariat noch nichts zu verlieren hat. In Deutschland dagegen sei große Vorsicht geboten, denn hier habe das Proletariat etwas zu verlieren. Für Zeiten großer Spannung und spontaner Erhebung des Proletariats sei er weder für Verbot noch für unbedingte Befürwortung des Mittels. Die wichtigste Voraussetzung sehe er in der Kräftigung der Organisationen, der Partei, der Gewerkschaften und der Genossenschaften. Der Kernsatz seines Vortrages war: „An eine Wundermacht des politischen Massenstreiks als alleinigen Mittels glauben wir nicht. Wir sehen in diesem Augenblick noch die überwältigende Übermacht der besitzenden Klasse und das Proletariat noch zu sehr zersplittert, um einen entscheidenden Kampf wagen zu können. Deshalb Stärkung der Organisationen, damit wir stärker werden. Wenn die gewerkschaftlichen Organisationen zu voller Kraft gekommen, wenn sie erfüllt sind von sozialistischem Bewußtsein und auf das engste verbunden mit einer kräftigen politischen Partei, dann kann der politische Streik ein Mittel werden, das gebraucht werden muß, das der herrschenden Klasse erschütternde Stöße zufügen kann und das in dieser Weise zum endlichen allgemeinen Siege beizusteuern vermag, dann kann dieses Mittel vielleicht sogar die Form werden, in der die letzten Schlachten zwischen Proletariat und Bourgeoisie ausgekämpft werden. (Beifall.)“ Siehe Polizeibericht, Bl. 199 R.

Nach Ebert sprachen Engelbert Pernerstorfer und Erhard Auer, und danach wird Eberts Vorschlag angenommen, die Sitzung am nächsten Tag fortzusetzen. Da kamen Vandersmissen und Karl Kautsky zu Wort. Dessen Ausführungen dauerten über eine Stunde, bis Ebert im Schlußwort nochmals die Position des Parteivorstandes betonte, indem er sagte: „Die Organisationen müssen geschult und ausgebildet sein. Alles muß fest ineinandergreifen und glatt funktionieren. Die Konsumvereine müssen imstande sein, die Munition zu liefern. Die freiwillige Disziplin muß so in Fleisch und Blut übergegangen sein, daß, – womit wir am ersten rechnen müssen – falls alle Führer gefangengenommen werden sollten, der Kampf dennoch mit gleicher Ruhe und gleicher Entschiedenheit weiter geführt werden könnte. Gerade dadurch, daß die Parteivorstandsresolution den Nachdruck legt auf die Organisation, wird der Streik wider den Staat Erfolg haben.

Er schließt mit den Worten, wenn sich die Gelegenheit bietet, der heutigen Staatsform durch unsere ökonomische Macht einen Schlag zu versetzen, so werden wir das nicht bleiben lassen. (Lebhafter Beifall.)“

Siehe ebenda, Bl. 206 R. – Siehe auch Zur Massenstreikresolution des Parteivorstandes. In: GW, Bd. 3, S. 322 ff.