Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 775

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Der Führer der deutschen Arbeiterklasse

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Die Sozialdemokratie erkennt als bewußte Anhängerin und geistiges Kind der materialistischen Geschichtsauffassung keinen Heroenkultus in der Geschichte an. Auch nicht in bezug auf sich selbst, als ein Stück der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft. Die Sozialdemokratie ist einerseits das Produkt der objektiven Entwicklung im Schoße des modernen Klassenstaats, die deutsche Sozialdemokratie speziell das Produkt der mächtigen großindustriellen wie der großstaatlich-weltpolitischen Entwicklung Deutschlands. Andererseits ist die Sozialdemokratie das Produkt der bewußten Einwirkung des werktätigen Idealismus Unzähliger und Ungenannter, vieler Generationen von Männern und Frauen, sie ist das Produkt der Massenaktion. Ohne diese Unzähligen, Ungenannten, ohne das bewußte Werk der Masse könnten die genialsten Führer die Sozialdemokratie nicht zu dem gestalten, was sie ist: einer Macht ersten Ranges im öffentlichen Leben der modernen Gesellschaft.

Aber auch innerhalb dieses Rahmens ist der Führerrolle in der Sozialdemokratie durch den besonderen Charakter dieser Partei von vornherein historisch ein bestimmter Inhalt, sind ihr dadurch auch bestimmte Schranken gegeben. Die bürgerlichen Parteien sind durch ihre ureigensten Interessen dazu verurteilt, ihre Ziele, ihre Politik im weiteren Sinne gegen die Interessen der Masse des Volkes durchzusetzen. Da aber die Unterstützung der Masse bis zu einem gewissen Grade für die Existenz und die Wirkungsfähigkeit jeder bürgerlichen Partei unentbehrlich ist, so ergibt sich daraus ein Doppeltes. Die bürgerlichen Parteiführer sind um so mächtiger und einflußreicher, ihre Aktionen um so kühner, großzügiger und wirksamer, je mehr die Führer sich selbst und je mehr sie die hinter ihnen einhergehenden Massen über den wahren Charakter ihrer Ziele, über die historischen Schranken ihrer Aufgaben zu täuschen imstande sind. Ihre größten Führer haben die bürgerlichen Klassen in der großen französischen Revolution gestellt, in jenem ersten modernen Klassenkampf, dessen geschichtliche Konsequenzen durch einen in Regenbogenfarben schillernden Nebel ideologischer Illusionen verhüllt waren. Je mehr die Selbsttäuschung und die Täuschung der Masse durch den Fortgang der Dinge unmöglich werden, um so mehr verfallen die bürgerlichen Parteien und sinkt das Niveau ihrer Führer. Man vergleiche

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[1] Nachruf für August Bebel, der am 13. August 1913 in Passugg in der Schweiz verstorben war und am 17. August 1913 in Zürich beigesetzt wurde. Rosa Luxemburg gehörte zu den prominenten Trauergästen der II. Internationale.