Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 705

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Rabbi und Mönch

[1]

So hat es nun auch Herr Bethmann Hollweg erleben müssen, was sein Vorgänger schon erlebt und so laut bezeugt hat, daß mit den Junkern nicht zu regieren ist. Je tiefer sich die Reichsregierung in das Joch der Junker spannte, desto unverschämter wurden sie, immer wieder lief das Reichsschiff fest, immer von neuem stellte es sich heraus: mit den Junkern ist nicht zu regieren!

Herr v. Heydebrand hatte in der alkoholbegeisterten Volksversammlung, die man den konservativen Parteitag Schlesiens nannte, es gewagt, die Politik der Sozialdemokratie als verbrecherisch zu bezeichnen. Gestern mußte er es erleben, daß der deutsche Reichskanzler seine eigne Politik als verbrecherisch, als eine Schädigung des Deutschen Reichs hinstellte.[2] So ähnlich sprach auch Bülow nach seiner Entlassung, so urteilte auch Hohenlohe in seinen Memoiren über die Junker, so war’s zu Caprivis Zeiten, von Bismarcks vernichtenden Urteilen über die Junkerbrut, der er selber entstammte, ganz zu schweigen. Immerhin hat ein amtierender Reichskanzler noch nie das gemeingefährliche Treiben dieser Junkerbrut so rücksichtslos gebrandmarkt, wie gestern Herr Bethmann. Wir Sozialdemokraten speziell finden in den Argumenten, die gestern Herr Bethmann gegen die Junker brauchte, mit einer gewissen Befriedigung unsre eigenen Argumente bestätigt, wie ja überhaupt Bethmanns gestrige Rede eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem gestrigen Leitartikel der „Leipziger Volkszeitung“ verrät.[3] Bei der Abrüstungsdebatte in diesem Frühjahr schrieben wir einmal den summarischen Satz: ein Sozialdemokrat hätte die Rede des Reichskanzlers halten müssen, jetzt – so kann man ebenso summarisch sagen – hat der Reichskanzler die Rede des Sozialdemokraten gehalten.

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[1] Der Artikel erschien anonym. Verfasserin ist vermutlich Rosa Luxemburg, die sich engagiert in die Auseinandersetzungen über die Haltung der deutschen Sozialdemokratie zum Marokkokonflikt einmischte und alles auch im Blick auf den bevorstehenden Wahlkampf beobachtete. Siehe Das Marokkoabkommen im Reichstag. In: GW, Bd. 3, S. 66 ff. Am 11. November 1911 notierte sie: „Ich habe nun den ganzen Berg von Zeitungen durchgeackert, Ausschnitte gemacht und auf dem Schreibtisch völlige Ordnung geschaffen.“ Siehe GB, Bd. 4, S. 121. Und am 14. November 1911 teilte sie Kostja Zetkin mit: „Habe gestern und vorgestern Leiter für die ‚Leipziger Volkszeitung‘ geschickt, sie erscheinen aber jetzt ohne meine Chiffre – Lensch will offenbar nicht mehr, daß ich so aus dem Blatt herausfalle; mir ist das nicht besonders lieb, ich liebe es, selbst für mich verantwortlich zu sein, aber es paßt mir nicht, zu protestieren.“ Ebenda, S. 123. Zwei Tage später schrieb sie über einen kleinen Konflikt mit Lensch, er hatte ihr einen scharfen Schluß gegen die Fraktion gestrichen. Angesichts dessen wollte sie zu ihren Initialen zurückkehren, „principiis obsta“ [Wehret den Anfängen]. Siehe ebenda, S. 124 f. Ab Mitte November 1911 schrieb sie erst einmal keine Leiter mehr für die LVZ. Lensch wollte offensichtlich nicht in den Sog der heftigen gegnerischen Hetze gegen Rosa Luxemburg geraten. Die „Volkswacht“ (Breslau) vom 7. September 1911 hatte z. B. enthüllt, daß zaristische Behörden Rußlands auf ihre Auslieferung drangen. In Nr. 37 von Die Zeit am Montag hieß es am 11. September 1911: „Der ‚Vorwärts‘ genügte offenbar dem revolutionären Drang der temperamentvollen Dame nicht mehr, so daß sie sich genötigt sah, nach einem andern Organ Umschau zu halten, in dem sie ihre Beiträge ablagern könnte. Daß sie auf der Suche nach einem solchen Blatt bei der ‚Leipziger Volkszeitung‘ anlangte, kann keineswegs befremden, weil dieses Organ auf dem äußersten linken Flügel der Sozialdemokratie steht. Der leitende Redakteur des Blattes, Dr. Lensch, welcher der Sohn eines königlich sächsischen Regierungsrates sein soll, – natürlich nur der ungeratene Sohn – ist einer der radikalsten Sturm- und Drang-Politiker, die in der Sozialdemokratie eine Rolle spielen. In der ‚Leipziger Volkszeitung‘ wird gegenwärtig die unverfälschte Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels verkündet. Sie ist die Kanzel, auf der Rosa Luxemburg ihres Amtes als Hohepriesterin der sozialen Revolution mit Feuereifer waltet. Ihr Überzeugungsdrang und ihre Rechtgläubigkeit sind so stark und elementargewaltig, daß sie den zarten Körper der schwächlichen Frau fast zersprengen, und wenn es ihr nicht gelänge, ab und zu ihrem leidenschaftlichen Haß gegen die Parteiketzer dadurch einen Abfluß zu schaffen, daß sie einen von ihnen öffentlich verbrennt, würden aller Wahrscheinlichkeit nach arge Gesundheitsstörungen zu befürchten sein.“ Übrigens verwandte sie den Ausdruck Rabbi und Mönch öfter. Siehe Rosas Luxemburg: Handschriftliche Fragmente zur Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus mit wirtschafts- und weltgeschichtlichen Vergleichen. In: GW, Bd. 7/1, S. 192; dies.: Sozialdemokratie und Monarchie. Rede am 24. August 1910 in einer Volksversammlung in Pforzheim. In: GW, Bd. 7/2, S. 628, Fußnote 6.

[2] Bethmann Hollweg erklärte am 10. November 1911 zur Rede von Heydebrand am Vortage: „Wenn ich im Bewußtsein meiner Verantwortung abgewogene Worte über die Reden fremder Staatsmänner spreche, so kann und soll dies zu einer Klärung unserer internationalen Beziehungen führen. Leidenschaftliche und alles Maß übersteigende Worte wie die des Herrn Heydebrand (sehr richtig! links – hört! hört!) mögen Parteiinteressen dienen, – das Deutsche Reich schädigen sie. (Lebhafter Beifall und hört! hört! links und bei den Sozialdemokraten.)“ Siehe Verhandlungen des Reichstags. XII. Legislaturperiode. II. Session. Stenographische Berichte, Bd. 268, S. 7756.

[3] Siehe Rosa Luxemburg: Kriegshetze im Reichstag. In: GW, Bd. 7/2, S. 701 ff.