Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 903

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Eine verhängnisvolle Parole

[1]

Während bei Beginn des Krieges der russische Zarismus in Deutschland als der Erb- und Erzfeind galt, gegen den die Nation in erster Reihe kämpfen müsse, hat sich das Blättchen in den letzten Wochen allmählich gew[endet].

Auf der einen Seite tauchten Gerüchte auf von „Spätherbstfäden“, die sich zwischen Deutschland und Rußland zu spinnen begonnen hätten, Gerüchte, die sofort von offiziöser Seite bestritten worden sind, aber eben doch bestritten werden mußten, statt sofort am allgemeinen Unglauben zu zerschellen. Auf der andern Seite wächst von Tag zu Tage der Haß gegen England, das heute jedenfalls in sehr weiten Kreisen als der Erb- und Erzfeind gilt, wie im Anfange des Krieges der zaristische Despotismus.

Wie alles in der Welt, hat auch diese Erscheinung ihre Gründe. England führt den Krieg in der gewalttätigsten und rohesten Weise, ohne jede Achtung vor den Satzungen des Völkerrechts, und droht ohne Gram und Scham, ihn zwanzig Jahre lang weiterzuführen, bis Deutschland völlig niedergezwungen sei. Aber – so muß man doch fragen – für wen ist das eine Überraschung? Wann hat England seine Kriege jemals anders geführt? Die englische Politik ist immer frei von allen Sentimentalitäten geblieben; sie war immer eine kapitalistische Mord- und Raubpolitik, von der das Gleiche gilt, was eine englische Zeitschrift vom Kapital überhaupt gesagt hat: „Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; zwanzig Prozent, es wird lebhaft; fünfzig Prozent, es wird positiv waghalsig; für hundert Prozent kämpft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß;

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet. Rosa Luxemburg ist aber gewiß die Autorin, denn Mathilde Jacob hat auf ihrem Exemplar handschriftlich RL vermerkt.

Nr. 1 der Sozialdemokratischen Korrespondenz (SK) war am 27. Dezember 1913 mit Rosa Luxemburgs Artikel Arbeitslos! in Berlin erschienen. Siehe GW, Bd. 3, S. 363 ff. Angekündigt worden war die SK durch Julian Marchlewski, Rosa Luxemburg und Franz Mehring am 17. Dezember 1913, nachdem es mit der Redaktion der Leipziger Volkszeitung zum Bruch gekommen war. Unter Brüskierung von Julian Marchlewski, des amtierenden Chefredakteurs der LVZ, war Anfang Oktober 1913 Rosa Luxemburgs kritischer Artikel Nach dem Jenaer Parteitag, auf dem heftige Debatten mit und über Rosa Luxemburg stattgefunden hatten, abgelehnt worden. Siehe GW, Bd. 3, S. 243 ff. und 358 f. Die SK erschien 1913/1914 dreimal wöchentlich, ab Januar bis Mai 1915 nur noch einmal wöchentlich mit der Wirtschaftlichen Rundschau von Julian Marchlewski.

Seit Beginn des Ersten Weltkrieges mit Belagerungszustand und Pressezensur signierte Rosa Luxemburg ihre Beiträge für die SK nicht mehr, um den Polizei- und Militärbehörden keine Anhaltspunkte für Anklagen zu geben.

Glücklicherweise sind viele Nummern der SK bei Mathilde Jacob erhalten geblieben. Auf ihnen befinden sich von Mathilde Jacob handschriftlich die Initialen der Autoren vermerkt. Sie hat bekanntlich die Manuskripte von Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Julian Marchlewki für die SK abgeschrieben. Ihre Sammlung der SK wurde ca. 1940/41 an die Familie von Fritz Winguth, Berlin, übergeben und ist seit den 1980er Jahren in Privatbesitz. Kopien davon befinden sich in Hoover Institution Archives, Stanford, Kalifornien/USA, in den Rosa Luxemburg and Mathilde Jacob Papers und bei Ottokar Luban, Berlin. Über die Auswertung siehe Ottokar Luban: Erstmalig identifizierte Artikel Rosa Luxemburgs in den Kriegsnummern der „Sozialdemokratischen Korrespondenz“ (August bis Dezember 1914). In: Rosa Luxemburg im internationalen Diskurs. Internationale Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in Chicago, Tampere, Berlin und Zürich (1998–2000). Hrsg. von Narihiko Ito, Annelies Laschitza und Ottokar Luban, Berlin 2002, S. 276 ff.; ders.: Mathilde Jacob – mehr als Rosa Luxemburgs Sekretärin! In: Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 6, Leipzig 2008, S. 196 ff., bes. S. 210. – Siehe auch Hannah Lotte Lund: „Ich umarme Sie mit großer Sehnsucht“, Rosa Luxemburg und Mathilde Jacob. In: Elke-Vera Kotowski, Anna-Dorothea Ludewig, Hannah Lotte Lund: Zweisamkeiten. 12 außergewöhnliche Paare in Berlin, Berlin 2016, S. 89 ff. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist der Beitrag unter Nr. 611 ausgewiesen. – Zwei kurze Briefe Franz Mehrings an Mathilde Jacob vom 12. und 24. Oktober 1914 könnten eine kleine Ungewißheit aufkommen lassen. „Würden Sie wohl die Freundlichkeit haben“, schrieb Mehring am 12. Oktober 1914, „die beifolgende Kleinigkeit zu vervielfältigen etwa in 20 Exemplaren und mir möglichst bald nebst Rechnung zu überreichen.“ Siehe Hoover Institution Archives, Stanford, Kalifornien/USA, Rosa Luxemburg and Mathilde Jacob Papers, box 3, folder 15. Bei den 20 Exemplaren könnte es sich auch um andere Schriftstücke handeln. Und am 24. Oktober 1914 steht: „,Politik‘ ist richtig! Besten Dank!“ Ebenda, folder 17. Auch wenn auf dem Exemplar der betreffenden SK mit den von Mathilde Jacob angebrachten Initialen RL das Wort „Politik“ auf dem Rand handschriftlich vermerkt ist, muß sich Mehrings Hinweis nicht darauf beziehen. Es gibt nur einen zeitlichen, aber keinen direkten Anhaltspunkt zum Titel und Inhalt der Nr. 110 der SK. Mathilde Jacob hat sich über die Autorschaft Rosa Luxemburgs sehr wahrscheinlich nicht geirrt.