Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 741

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/741

Łódź

[1]

Vierzigtausend Textilarbeiter liegen, von den Fabrikanten ausgesperrt, auf dem Pflaster, weil sie nach sieben Jahren des greulichsten Elends, nach einer ein halbes Jahr dauernden drückenden Arbeitslosigkeit bei eingetretener Besserung der Konjunktur erklärt haben: Es kann nicht so weiter gehen![2] In den nächsten Tagen kommen weitere Tausende dazu, die ihre Arbeit gekündigt haben, wenn sie keine Lohnaufbesserung bekommen. Dann würden 60000 Arbeiter von 83000 im Kampfe stehen, also Dreiviertel des Proletariats im polnischen Manchester.

Europa hat schon größere Aussperrungen gesehen, als diese, die jetzt die Arbeit in Łódź lahmlegt. Aber Europa hat kein zweites Łódź, Europa hat keine zweite Textilindustrie, die sich an rasender Ausbeutung mit dieser kapitalistischen Hölle messen könnte, darum wächst der Łódźer Kampf weit über die Grenzen eines gewöhnlichen Gewerkschaftskampfes um die Verbesserung der Lohnverhältnisse hinaus. Und die Rolle, die Łódź in der russischen Revolution gespielt,[3] das Blut, das die Arbeiterklasse dort im Kampfe verspritzt, die Ausdauer, mit der sie gefochten hat, bis sie ein Blutregime niederwarf, wie es selbst im Reiche des Zaren nur noch in den Ostseeprovinzen zu finden war: Das alles gibt dem Ringen in Łódź die größte politische Bedeutung.

Łódź ist eine Stadt ohne Vergangenheit. Deutsches Kapital hat sie aus dem Boden gezaubert, als der sächsischen Textilindustrie durch die politischen Umwälzungen am Anfange des 19. Jahrhunderts der Verlust ihres Absatzmarktes in Rußland drohte. Deutsches Kapital, deutsche Meister, ja Tausende deutscher Arbeiter kamen damals nach Polen und in einer fluß- und waldlosen Gegend begann eine Werkstatt nach der anderen zu entstehen. Als später die Maschine die Hauswebereien und Spinnereien zu

Nächste Seite »



[1] Der Artikel erschien anonym. Rosa Luxemburg ist aber sehr wahrscheinlich die Autorin. Ihre erneute intensive Beschäftigung mit Łódź ergibt sich aus Briefen an Leo Jogiches vor Juli 1913. Siehe GB, Bd. 4, S. 281 ff. In Der Textil-Arbeiter (Berlin) erfolgte in Nr. 30 vom 25. Juli 1913 unter der Überschrift Der Riesenkampf der Textilsklaven in Łódź ein Nachdruck, der in der Rosa-Luxemburg-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), unter Nr. 552 ausgewiesen ist. Siehe auch GW, Bd. 3, S. 291 ff., wo aus Der Textil-Arbeiter vom 1. und 29. August 1913 zwei weitere Artikel über Łódź veröffentlicht worden sind.

[2] Die Textilarbeiter in Łódź und Umgebung standen im Sommer 1913, vor allem im Juni und Juli, im Kampf um höhere Löhne. Bis zum 8. August beteiligten sich 80000 Arbeiter. Gegen die Streikenden wurde Militär in Bereitschaft gehalten; viele Arbeiter wurden verhaftet.

[3] Siehe dazu Eine Riesendemonstration in Łódź, Streikrevolution in Łódź und Die Straßenschlacht in Łódź. In: GW, Bd. 6, S. 543 ff.