Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 742

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ruinieren begann, als eine Fabrik nach der anderen gebaut wurde, denen die gelernten Spinner und Weber nicht genügten, da strömte der proletarisierte Bauer und Handwerker aus weiter Umgebung in die Stadt, es entstand eine Mietskaserne nach der anderen. Aus dem kleinen Nest wurde eine gottvergessene Fabrikstadt, vom Maschinenlärm und Rauch gefüllt, ohne Wasser, ohne Kanalisation, ohne die geringsten Kultureinrichtungen. In den Arbeitervierteln eine zusammengepferchte Masse, die nach zwölf- bis vierzehnstündiger Arbeitszeit in den Destillen den Hundelohn versoff. In den Villen der wie Pilze aufschießenden Millionäre, in den Varietés, in den Hotels ein kalifornisches Geldverprassen. Dazwischen summte das emsige Volk der „Łódźermenschen“, der kleinen Kapitalisten, der Reisenden, Spekulanten, die, mit geringen Mitteln ausgerüstet, sich durch Betrug und grenzenlose Ausbeutung auf die Höhen emporzuschwingen suchten, auf denen die Poznan´ski, Scheibler, Geyer, Grohman, Kneitzer, die schon „Gemachten“ wandelten.

Der Fabrikantentypus dieses „gelobten Landes“ – so nannte ein großer polnischer Romancier Łódź[1] – war demnach der einer rücksichtslosen Hyäne der ursprünglichen Akkumulation, die ebenso wenig den Diebstahl von Gas aus den städtischen Gasröhren verschmäht, wie vor der Vernichtung ganzer Arbeitergenerationen zurückschreckt. Die Łódźer Arbeitermasse aber war im Gegensatz zu dem kulturellen Stamm der Warschauer Arbeiterschaft die ungebildetste in ganz Polen, immer von neuem wurde sie durch frische, aus dem Dorfe zugewanderte Elemente verstärkt. Es ist klar, daß die sozialistische Agitation, die von Warschau aus nach Łódź durchzudringen suchte, nur sehr schwer Fuß fassen konnte. Nicht nur angesichts der Unwissenheit, der Stupidität der Arbeitermassen, sondern auch weil sie in den nur nach Gewinn lechzenden Kreisen der „Intelligenz“, aus denen überall in Rußland so opferwillige Pioniere des Sozialismus erwuchsen, so wenig Anklang finden konnte. Wenn Łódź bis zur Revolution des Jahres 1905 immer nur sehr schwache Ansätze zu geheimen sozialistischen Organisationen kannte, so war es die erste Stadt, in der vor der Revolution die Masse selbst sich rührte, und es war während der Revolution die Stadt der revolutionären Massenbewegung. Im Jahre 1892 kam es in Łódź unter dem Einfluß der Nachrichten über die Maifeier in Europa und dem brutalen Auftreten der Fabrikanten und Regierung zu einem mehrtägigen Massenstreik von über 50000 Arbeitern.[2] Aber wie gewaltig er auch von dem revolutionären Klasseninstinkt der Arbeiterschaft zeugte, so bewies sein Verlauf doch, daß von irgendeinem Klassenbewußtsein der Arbeiter keine Rede war: die Arbeitermasse forderte gleichzeitig den Achtstundentag und „einen polnischen König“ – ein Schneider wurde als solcher proklamiert – und dann

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[1] Es handelt sich um Wl⁄adysl⁄aw Reymont: Ziemia obiecana (Das gelobte Land), Łódź 1897; in deutscher Sprache 1915; 1974 von Andrzej Wajda verfilmt.

[2] Die Streikbewegung hatte seit dem 1. Mai 1890 große Ausmaße angenommen und erfaßte auch die Textilindustrie in Łódź. Den Höhepunkt erreichte sie im Aufstand der Arbeiter von Łódź am 5. Mai 1892 mit etwa 80000 Streikenden.