Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 900

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Der Philister und sein Sieg

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Die in der Kriegsgeschichte steht die beispiellose Schlacht in Frankreich[2], die auf immer ausgedehnterem Gebiet immer gewaltigere Menschenmassen ins Feuer schickt, ohne eine Entscheidung herbeizuführen, Sie ist der deutliche Ausdruck dafür, wie sehr sich der heutige Weltkrieg von allen früheren unterscheidet.[3] Jeder Krieg war seit jeher ein Schrecken für die ruhige wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung. Er war immer ein plötzlicher Ausbruch der Barbarei inmitten des Kulturlebens, ein plötzlicher Rückfall in die Zeiten des nackten Faustrechts, wo dasjenige Volk das höhere historische Recht für sich in Anspruch nahm, das einen höheren Berg von Leichen auf den Schlachtfeldern aufgerichtet hatte. Solange Privateigentum und Klassenstaat bestehen, sind diese periodischen gegenseitigen Zerfleischungen von Völkern das unvermeidliche Mittel der geschichtlichen Entwicklung gewesen und werden es auch solange sein, als Privateigentum und Klassenstaat die Grundlagen das Fundament des gesellschaftlichen Lebens bleiben. Die besondere Form des Privateigentums, die mit dem modernen Kapital aufgekommen ist, hat an diesem brutalen Gesetz des geschichtlichen Fortschritts vorerst nichts geändert. Kam doch das Kapital zur Welt und kommt es noch an jedem Tage in neuen Gebieten zur Herrschaft – wie Marx sagte – „von Kopf bis Zeh aus allen Poren Blut und Schmutz triefend“.[4] Aber die Methode der

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet. Rosa Luxemburg ist aber gewiß die Autorin, denn Mathilde Jacob hat auf ihrem Exemplar handschriftlich RL vermerkt.

Nr. 1 der Sozialdemokratischen Korrespondenz (SK) war am 27. Dezember 1913 mit Rosa Luxemburgs Artikel Arbeitslos! in Berlin erschienen. Siehe GW, Bd. 3, S. 363 ff. Angekündigt worden war die SK durch Julian Marchlewski, Rosa Luxemburg und Franz Mehring am 17. Dezember 1913, nachdem es mit der Redaktion der Leipziger Volkszeitung zum Bruch gekommen war. Unter Brüskierung von Julian Marchlewski, des amtierenden Chefredakteurs der LVZ, war Anfang Oktober 1913 Rosa Luxemburgs kritischer Artikel Nach dem Jenaer Parteitag, auf dem heftige Debatten mit und über Rosa Luxemburg stattgefunden hatten, abgelehnt worden. Siehe GW, Bd. 3, S. 243 ff. und 358 f. Die SK erschien 1913/1914 dreimal wöchentlich, ab Januar bis Mai 1915 nur noch einmal wöchentlich mit der Wirtschaftlichen Rundschau von Julian Marchlewski.

Seit Beginn des Ersten Weltkrieges mit Belagerungszustand und Pressezensur signierte Rosa Luxemburg ihre Beiträge für die SK nicht mehr, um den Polizei- und Militärbehörden keine Anhaltspunkte für Anklagen zu geben.

Glücklicherweise sind viele Nummern der SK bei Mathilde Jacob erhalten geblieben. Auf ihnen befinden sich von Mathilde Jacob handschriftlich die Initialen der Autoren vermerkt. Sie hat bekanntlich die Manuskripte von Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Julian Marchlewki für die SK abgeschrieben. Ihre Sammlung der SK wurde ca. 1940/41 an die Familie von Fritz Winguth, Berlin, übergeben und ist seit den 1980er Jahren in Privatbesitz. Kopien davon befinden sich in Hoover Institution Archives, Stanford, Kalifornien/USA, in den Rosa Luxemburg and Mathilde Jacob Papers und bei Ottokar Luban, Berlin. Über die Auswertung siehe Ottokar Luban: Erstmalig identifizierte Artikel Rosa Luxemburgs in den Kriegsnummern der „Sozialdemokratischen Korrespondenz“ (August bis Dezember 1914). In: Rosa Luxemburg im internationalen Diskurs. Internationale Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in Chicago, Tampere, Berlin und Zürich (1998–2000). Hrsg. von Narihiko Ito, Annelies Laschitza und Ottokar Luban, Berlin 2002, S. 276 ff.; ders.: Mathilde Jacob – mehr als Rosa Luxemburgs Sekretärin! In: Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 6, Leipzig 2008, S. 196 ff., bes. S. 210. – Siehe auch Hannah Lotte Lund: „Ich umarme Sie mit großer Sehnsucht“, Rosa Luxemburg und Mathilde Jacob. In: Elke-Vera Kotowski, Anna-Dorothea Ludewig, Hannah Lotte Lund: Zweisamkeiten. 12 außergewöhnliche Paare in Berlin, Berlin 2016, S. 89 ff. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist der Beitrag unter Nr. 609 ausgewiesen. Jeden Tag gebe es „eine Menge Kleinigkeiten: Briefe, Zeitungskleberei, ‚Korrespondenz‘-Artikel, Besprechungen etc“, schrieb sie in der ersten Hälfte Oktober 1914 an Kostja Zetkin. Siehe GB, Bd. 5, S. 13.

[2] Die Streichungen und die kursiv gesetzten Veränderungen machen in dem vorliegenden Text auf handschriftliche Korrekturen aufmerksam, die Mathilde Jacob auf ihrem Exemplar vermutlich für die vorgesehene Veröffentlichung in Die Gleichheit vorgenommen hat. Der Artikel erschien unter Berücksichtigung der meisten Korrekturen unter der Überschrift Der Sieg. In: Die Gleichheit (Stuttgart), Nr. 3 vom 30. Oktober 1914.

[3] Seit Ende September 1914 entwickelte sich auf dem westeuropäischen Kriegsschauplatz zwischen beiden Seiten ein gewisses Gleichgewicht, das in den entscheidungslosen Operationen der folgenden Monate seinen Ausdruck fand. 84 deutschen Divisionen standen 85 ½ französisch-englische gegenüber. Von Noyon bis zur Schweizer Grenze war die Front bereits im Stellungskrieg erstarrt. Die Kampfhandlungen wurden in den Raum nördlich der Oise verlagert. Im Rahmen der deutschen Angriffsoperation entbrannte vom 2. bis 10. Oktober 1914 die Schlacht bei Arras, die unter schweren Verlusten fehlschlug.

[4] Bei Karl Marx heißt es: „Wenn das Geld, nach Augier, ‚mit natürlichen Blutflecken auf einer Backe zur Welt kommt‘, so das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend.“ Siehe Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals, Hamburg 1867, S. 742. – In: MEW, Bd. 23, S. 788.