Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 901

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Kriege, die Technik, die Tragweite der Kriege hat das moderne Kapital, revolutionär wie es von Hause [aus] ist, gründlich umgestaltet. Mit der imperialistischen Stufe Phase des Kapitalismus haben militärische Rüstungen im Frieden wie Operationen im Kriege einen Umfang angenommen, wie er in der Weltgeschichte bis dahin unbekannt war. Und wenn die imperialistische Kriegsperiode auch von dem Japanisch-Chinesischen Krieg 1895[1] datiert werden kann und seitdem her bereits ein Dutzend blutiger Völkertreffen in verschiedenen Weltteilen herbeigeführt hat,[2] so kommt das besondere Wesen dieses neuen Typus der Kriege in keinem so deutlich zum Ausdruck, wie in dem gegenwärtigen gewaltigen europäischen Ringen.

Ungeduldig wartet der Philister daheim auf die dröhnenden „Siegesnachrichten“, verwöhnt durch die ersten paar Wochen des Krieges, die ihm pünktlich fast zu jedem Morgenkaffee einen „glänzenden Erfolg“ bescherten. Ungeduldig, gelangweilt nimmt er seine Morgenzeitung und seine Abendzeitung in die Hand, in der seit Wochen schon fast wörtlich dieselbe Meldung steht: „Die Lage im Westen unverändert“. Der Philister hinter dem Ofen und am Biertisch bedenkt nicht, daß diese lakonische und eintönige Nachricht nicht etwa einen Stillstand der militärischen Operationen bedeutet, nicht ein Ausruhen der Truppen im schlaffen Nichtstun. Er bedenkt nicht, daß diese anscheinend unveränderte Situation nur ein anderer Ausdruck für eine unermüdliche Riesenschlacht ist, die Hunderte von Kilometern umspannt, die wie ein ewig bewegliches Meer hier in hohen Wogen aufbraust, um dort für einen Augenblick Moment abzuflauen. Eine Riesenschlacht, in der Millionen Tag und Nacht gegeneinander im Feuer stehen und oder auf der Lauer liegen, um sich im nächsten Augenblick ins Feuer zu stürzen. Eine Riesenschlacht, in der Tag für Tag Tote und Verwundete zu Tausenden fallen, weitere Tausende vor übermenschlichen Leistungen, Strapazen und Entbehrungen umkommen oder fürs Leben siech werden. Eine Riesenschlacht, in der jedes [augenblickliche Neigen][3] der Waagschale nach dieser oder jener Seite nur das Ergebnis hat, daß neue Menschenmassen auf den geschwächten Punkt geworfen werden. …

Der Philister am Biertische wartet auf seinen „glänzenden Sieg“ und hat es nicht bemerkt, daß unter den neuen Bedingungen der Kriegführung die Begriffe selbst von „Sieg“ und „Niederlage“ eine gründliche Umwerfung Revision erlebt haben. Wohl zu Mute war dem Philister in den früheren Zeiten, wo eine einzige Hauptschlacht von ein paar Tagen den Ausgang eines ganzen Feldzugs entschied. Da konnte er seine „Siege“ voll und ungetrübt genießen. Heute aber, wo wochenlanges, monatelanges Ringen auf einem Schlachtfelde währt, wo mehr an Toten und Verwundeten auf

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[1] Der Chinesisch-Japanische Krieg von August 1894 bis April 1895 wurde um die Vorherrschaft in Korea geführt und mit dem Frieden von Shimonoseki zugunsten Japans beendet. China wurde gezwungen, die Gebietsforderungen Japans anzuerkennen.

[2] Siehe Rosa Luxemburg: Friedensutopien vom 6. Mai 1911. In: GW, Bd. 2, S. 496, wo es heißt: „Wir hatten in diesen 15 Jahren: 1895 den Krieg zwischen Japan und China, der das Präludium der ostasiatischen Periode der Weltpolitik bildete, 1898 den Krieg zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten, 1899–1902 den Burenkrieg Englands in Südafrika, 1900 den Chinafeldzug der europäischen Großmächte, 1904 den Russisch-Japanischen Krieg, 1904–1907 den deutschen Hererokrieg in Afrika; dazu kommt 1908 die militärische Intervention Rußlands in Persien, im gegenwärtigen Moment die Militärintervention Frankreichs in Marokko, ohne der unaufhörlichen Kolonialscharmützel in Asien und Afrika zu gedenken. Schon die nackten Tatsachen zeigen also, daß seit 15 Jahren beinahe kein Jahr ohne eine Kriegsaktion vergangen ist.“

[3] Im Exemplar Unleserliches wurde mit diesen Worten in fremder Handschrift überschrieben.