Die Gründung eines Massenstreikfonds. Erläuterung zum Beschluß der Groß-Berliner sozialdemokratischen Generalversammlung vom 14. Juni 1914
[1]Es ist zu erwarten, daß der bedeutsame Vorstoß, der mit der Sammlung eines Massenstreikfonds gemacht worden ist, von den breitesten Schichten der aufgeklärten Arbeiterschaft in Deutschland mit Jubel begrüßt wird, als ein deutliches handgreifliches Zeichen, daß der Wille zur Tat in der Partei kein leeres Wort ist, daß wir aus der Phase der Drohungen in die Phase der Erfüllung hinübertreten.
In diesem Sinne ist der „Kampffonds“ auch nur zu verstehen. Unter keinen Umständen dürfen wir mit dem Sammeln von Mitteln für den künftigen Massenstreik bei den Arbeitern die Vorstellung erwecken, als sei das gesammelte Geld nun die eigentliche Vorbereitung der Kampfaktion, deren Gelingen von der Höhe der eingebrachten Summe abhängig, deren Beginn an ein bestimmtes Minimum dieser Summe geknüpft wäre. Das einzige Beispiel unter den zahllosen politischen Massenstreiks im Auslande, bei dem das Sammeln von Geldmitteln zur Voraussetzung der Aktion gemacht worden ist, war der letzte belgische Wahlrechtsstreik,[2] der in bezug auf seinen politischen Effekt viel weniger erreicht hat als die früheren belgischen und als viele andere Streiks, die ohne gesammelte Fonds ins Werk gesetzt worden waren. Die Wirksamkeit von Massenaktionen hängt in erster Linie nicht von dem Umfang des Geldbeutels ab, über den die Kämpfenden verfügen, sondern von der Kühnheit und Konsequenz der politischen Taktik, die den Massenstreik begleitet und leitet. Wir haben auch an den
[1] Überschrift der Redaktion. – Laut Volksstimme (Chemnitz) ist Rosa Luxemburg die Autorin der Erläuterung. Die Schwäbische Tagwacht (Stuttgart), Nr. 137 vom 17. Juni 1914, berichtete über diese Rede lediglich, was sie zum Wahlrechtskampf gesagt hatte: „Genossin Luxemburg bedauerte, daß 1910, als der Wahlrechtskampf in schönstem Gange war, als wir gut besuchte Versammlungen und glänzende Straßendemonstrationen in immer gesteigerter Form hatten, auf einen Wink von oben abgebrochen wurde. Nun sei von verschiedenen Seiten mit den stärksten Worten die zweite Etappe im Wahlrechtskampf angekündigt. Wenn aber nicht wirklich etwas geschehe, werde die Entmutigung der Massen noch weiter um sich greifen. Freilich, wenn man nicht entschlossen sei, die Bewegung bis zu ihren letzten Konsequenzen durchzuführen, wenn vielmehr damit zu rechnen sei, daß die Bewegung auf einer gewissen Höhe wieder abgemurkst werden solle, dann sei es besser, lieber gar nichts zu tun. Es sei außerordentlich gefährlich, schmetternde Kampffanfaren loszulassen, die man nicht ernst meine.“ Gegen die von ihr vorgeschlagene Resolution sprach besonders der Vertreter der Gewerkschaften. Die Rede am 14. Juni 1914 auf der 3. Generalversammlung des Verbandes sozialdemokratischer Wahlvereine Berlins und Umgegend sowie die Resolution nach dem Bericht aus dem Vorwärts (Berlin), Nr. 160 vom 15. Juni 1914, siehe in: GW, Bd. 3, S. 464 ff.
[2] Am 14. April 1913 hatte in Belgien ein politischer Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht begonnen, der seit Juni 1912 durch ein spezielles Komitee organisatorisch, finanziell und ideologisch im ganzen Lande sorgfältig vorbereitet worden war. An dem Streik beteiligten sich etwa 450000 Arbeiter. Am 24. April 1913 beschloß der Parteitag der Belgischen Arbeiterpartei den Abbruch des Streiks, nachdem sich das belgische Parlament dafür ausgesprochen hatte, die Reform des Wahlrechts in einer Kommission erörtern zu lassen.