Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 879

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Obrigkeit auf die Idee, sich „beleidigt“ zu fühlen, auf den Versuch, der öffentlichen Kritik an den Soldatenmißhandlungen mit gerichtlichen Strafandrohungen den Mund zu knebeln!

Die Prozesse kennzeichnen sich von Anfang an als politische Tendenzprozesse. Es ist der verhaßte politische Gegner, es ist die vernichtende Kritik der Sozialdemokratie, die hier zur Strecke gebracht werden soll. Die Prozesse leiten deutlich einen neuen Kurs ein, den Kurs systematischer Verfolgungen der Sozialdemokratie durch den Militarismus.

Damit ist schon gesagt, daß die Prozesse durchgefochten werden mit aller Energie und mit allen Mitteln, die zu Gebote stehen. Und dieser Mittel sind wahrlich nicht wenige. Der Militarismus will das Gericht zur politischen Kampfarena gestalten, nun wohl, wir nehmen den Kampf auf. Nicht darum handelt es sich jetzt, von einigen sozialdemokratischen „Sündern“ die Strafe abzuwehren. Opfer gehören zum Kampf. Es handelt sich darum, das Lebenselement der Sozialdemokratie und die Gewähr jedes Fortschritts: das Recht der öffentlichen Kritik in Deutschland zu verteidigen. Es handelt sich ferner darum, in die Dunkelkammer des Militarismus hineinzuleuchten, die Soldatenmißhandlungen in ihrem ganzen Umfang vor das Licht der Öffentlichkeit zu ziehen, da dies bislang doch das einzige wirksame Mittel war, um dem System der heutigen Kasernenerziehung einigermaßen den Zaum anzulegen und das traurige Dasein zahlreicher Soldaten ein wenig zu erleichtern.

Der beleidigte Kriegsminister mit seinen Offizieren und Unteroffizieren sollen also in den jetzt eingeleiteten Prozessen reichlich zu ihrem Recht kommen. Damit dies aber in möglichst weitem Maße geschieht, ist die energische Mitwirkung breiter Volkskreise erforderlich. Viele der vor den Militärgerichten vernommenen Zeugen haben inzwischen ihren Aufenthalt gewechselt. An alle ehemaligen Soldaten, deren Mißhandlungen Gegenstand einer militärgerichtlichen Verhandlung gewesen, ergeht deshalb die Aufforderung, unverzüglich ihre jetzigen Adressen der Redaktion unseres Blattes mitzuteilen. Ebenso müssen die Opfer und Zeugen von Mißhandlungen, die nicht zur militärgerichtlichen Aburteilung gekommen sind, sich bei unserer Redaktion melden.[1] Auch diese Prozesse sollen den Beweis liefern, daß jeder Streich, zu dem der heutige Staat gegen das kämpfende Proletariat ausholt, mit verdoppelter Kraft auf den Urheber selbst zurückfällt.

Vorwärts (Berlin),

Nr. 152 vom 7. Juni 1914.

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[1] Die entscheidende Passage in der Anklagerede des Staatsanwalts Dr. Hoffmann, auf die sich Rosa Luxemburg wiederholt polemisch bezog, hatte folgenden Wortlaut: „Die Angeklagte überlegt sich genau, was sie sagt. Ihre ganze Persönlichkeit ist nicht geeignet, eine milde Auffassung hervorzurufen. Sie gehört der extremsten Gruppe des radikalsten Flügels der Sozialdemokratie an. Sie ist bekannt durch ihre außerordentlich scharfen Reden. Sie trägt den Beinamen ‚die rote Rosa‘ nicht mit Unrecht. Die Frankfurter Reden zeigen, was sie in ihrem Kopfe denkt, was sie in ihrer Brust fühlt. Sie spielt mit dem Massenstreik, sie animiert zum Mord, sie fordert zur Meuterei auf. Das läßt erkennen, von welcher Todfeindschaft die Angeklagte gegen die bestehende Staatsordnung erfüllt ist. Wenn irgendeine unbekannte Agitatorin die Rede gehalten hätte, so würde sie mit einer geringen Strafe davonkommen. Aber die Angeklagte wird sich gefallen lassen müssen, daß die Strafe ihrer Bedeutung, ihrer Vergangenheit und ihrer außerordentlich starken staatsfeindlichen Gesinnung entspricht. Das Hauptwort bei der Strafe spricht nicht die Gefährlichkeit der Person, sondern die Gefährlichkeit der Tat. Die Tat ist eine ganz außerordentlich gefährliche. Damals waren gerade die Balkanwirren zu Ende. Es lag Explosivstoff in der Luft. Das wußte die Angeklagte. Um so verwerflicher war es, daß sie die Meuterei predigte, wenn es zum Kriege käme. Man lasse nur ein bis zwei Dutzend derart verhetzter entschlossener Leute in einer Kompanie sein, so würde es diesen Leuten ein leichtes werden, ein bis zwei Dutzend andere Leute auf ihre Seite zu bekommen. Das würde vollkommen genügen, um plötzlich eine Meuterei hervorzubringen. Kommt infolge einer Meuterei das Gefecht zum Stehen, dann müssen die allerschlimmsten Folgen kommen. Die Entscheidungsschlacht kann durch eine derartige plötzliche Meuterei verloren gehen. Man denke auch an den niederschmetternden Eindruck, den eine solche Meuterei im eigenen Heere und beim Feinde hervorrufen müßte. Ein einziger Fall einer solchen Meuterei vor dem Feinde kann außerordentlich schwerwiegende Folgen haben, kann unter Umständen sogar katastrophal wirken.

Das alles hat die Angeklagte gewußt. Das sind keine Hirngespinste und keine Phantasieprodukte, die zu scharfmacherischen Zwecken vorgetragen werden. Es sind lebendige Wirklichkeiten, die jeden Tag eintreten können. Die Tatsache, daß derartige Möglichkeiten vorliegen, stempeln die Tat der Angeklagten zu einer ganz außerordentlich gefährlichen. Was die Angeklagte getan hat, ist ein Attentat auf den Lebensnerv unseres Staates.“ Zitiert nach Vorwärts (Berlin), Nr. 54 vom 24. Februar 1914.