Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 701

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Kriegshetze im Reichstag

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Was sich gestern im Reichstag abspielte, war in diesem Parlament noch nicht dagewesen. Da vertritt der oberste Beamte des Reichs seine in schwierigen und gefährlichen Fragen geführte Politik, eine Politik, die dem deutschen Volk einen Krieg erspart hat; und die bürgerlichen Parteien ohne Ausnahme wenden sich gegen ihn! Das Zentrum, die Junker, die Liberalen! Offen sprechen sie es aus, daß ihnen mit der Erhaltung des Friedens nicht gedient ist, daß sie den Krieg haben wollten und daß sie gerade daraus der Regierung den stärksten Vorwurf machen, was ihr einziges Verdienst ist, daß sie es um Marokkos[2] willen nicht zum Weltkriege kommen ließ. Und der Füh-

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[1] Der Artikel erschien anonym. Verfasserin ist vermutlich Rosa Luxemburg, die sich engagiert in die Auseinandersetzungen über die Haltung der deutschen Sozialdemokratie zum Marokkokonflikt einmischte und alles auch im Blick auf den bevorstehenden Wahlkampf beobachtete. Siehe Das Marokkoabkommen im Reichstag. In: GW, Bd. 3, S. 66 ff. Am 11. November 1911 notierte sie: „Ich habe nun den ganzen Berg von Zeitungen durchgeackert, Ausschnitte gemacht und auf dem Schreibtisch völlige Ordnung geschaffen.“ Siehe GB, Bd. 4, S. 121. Und am 14. November 1911 teilte sie Kostja Zetkin mit: „Habe gestern und vorgestern Leiter für die ‚Leipziger Volkszeitung‘ geschickt, sie erscheinen aber jetzt ohne meine Chiffre – Lensch will offenbar nicht mehr, daß ich so aus dem Blatt herausfalle; mir ist das nicht besonders lieb, ich liebe es, selbst für mich verantwortlich zu sein, aber es paßt mir nicht, zu protestieren.“ Ebenda, S. 123. Zwei Tage später schrieb sie über einen kleinen Konflikt mit Lensch, er hatte ihr einen scharfen Schluß gegen die Fraktion gestrichen. Angesichts dessen wollte sie zu ihren Initialen zurückkehren, „principiis obsta“ [Wehret den Anfängen]. Siehe ebenda, S. 124 f. Ab Mitte November 1911 schrieb sie erst einmal keine Leiter mehr für die LVZ. Lensch wollte offensichtlich nicht in den Sog der heftigen gegnerischen Hetze gegen Rosa Luxemburg geraten. Die „Volkswacht“ (Breslau) vom 7. September 1911 hatte z. B. enthüllt, daß zaristische Behörden Rußlands auf ihre Auslieferung drangen. In Nr. 37 von Die Zeit am Montag hieß es am 11. September 1911: „Der ‚Vorwärts‘ genügte offenbar dem revolutionären Drang der temperamentvollen Dame nicht mehr, so daß sie sich genötigt sah, nach einem andern Organ Umschau zu halten, in dem sie ihre Beiträge ablagern könnte. Daß sie auf der Suche nach einem solchen Blatt bei der ‚Leipziger Volkszeitung‘ anlangte, kann keineswegs befremden, weil dieses Organ auf dem äußersten linken Flügel der Sozialdemokratie steht. Der leitende Redakteur des Blattes, Dr. Lensch, welcher der Sohn eines königlich sächsischen Regierungsrates sein soll, – natürlich nur der ungeratene Sohn – ist einer der radikalsten Sturm- und Drang-Politiker, die in der Sozialdemokratie eine Rolle spielen. In der ‚Leipziger Volkszeitung‘ wird gegenwärtig die unverfälschte Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels verkündet. Sie ist die Kanzel, auf der Rosa Luxemburg ihres Amtes als Hohepriesterin der sozialen Revolution mit Feuereifer waltet. Ihr Überzeugungsdrang und ihre Rechtgläubigkeit sind so stark und elementargewaltig, daß sie den zarten Körper der schwächlichen Frau fast zersprengen, und wenn es ihr nicht gelänge, ab und zu ihrem leidenschaftlichen Haß gegen die Parteiketzer dadurch einen Abfluß zu schaffen, daß sie einen von ihnen öffentlich verbrennt, würden aller Wahrscheinlichkeit nach arge Gesundheitsstörungen zu befürchten sein.“

[2] Im Frühjahr 1911 hatte die französische Regierung den Versuch unternommen, ihre kolonialen Pläne in Marokko ohne deutsche Beteiligung durchzusetzen. Sie nahm einen Aufstand der Marokkaner in der Umgebung der Hauptstadt Féz zum Anlaß, die Stadt zu besetzen. Dieses Vorgehen nahm die deutsche Regierung als Vorwand für die Erklärung, Deutschland fühle sich nicht mehr an frühere Abkommen über Marokko gebunden. Anfang Juli entsandte die deutsche Regierung zwei Kriegsschiffe nach Agadir und beschwor durch diese Provokation die Gefahr eines Weltkrieges herauf. Das Eingreifen Englands zugunsten Frankreichs zwang die deutschen Kolonialpolitiker zum Nachgeben. Zwischen Frankreich und Deutschland wurde ein Kompromiß geschlossen.