Unser Wahlsieg und seine Lehren. Schlußwort am 1. März 1912 auf der Mitgliederversammlung des Sozialdemokratischen Vereins Bremen
[1]Nach einem Zeitungsbericht
Kehren wir von den kleinen persönlichen Schmerzen zu den großen allgemeinen Schmerzen der Partei zurück. Ich bin den Genossen Rhein und Waigand dankbar, daß sie hier ihre Ausführungen gemacht haben, das gibt mir den Anlaß, die Sache in einigen Punkten noch etwas präziser zu fassen.[2] Wir sind eine demokratische Partei, in der die Mehrheit gilt. Wie wollen Sie nun eine Taktik festlegen, vor der die Mehrheit nicht zurückschreckt, ohne die Meinung der Mehrheit vorher in einen faßbaren Ausdruck zu bringen? Es ist vollständig verfehlt, von einem Mißtrauen gegen den Vorstand zu sprechen. Wir sind hier zusammengekommen, um über eine wichtige Parteiangelegenheit unsere Meinungen aus[zu]tauschen. Ich protestiere gegen die Auslegung, als ob die Resolution auch nur im entferntesten eine Verurteilung des Parteivorstandes in sich schließen soll.[3] Es steht hier eine außerordentlich wichtige Parteiaktion zur
[1] Die Rede siehe GW, Bd. 3, S. 124 ff.
[2] Genosse Rhein fand es nicht richtig, daß die Kritik des Stichwahlabkommens der Sozialdemokratie mit den Freisinnigen den Hauptteil der Darlegungen Rosa Luxemburgs ausgemacht habe. Das Abkommen sei der Situation entsprungen, in der sich der Parteivorstand befunden hätte. „Wir sollten uns keine Trugbilder vormachen.“ Ein Urteil über das Abkommen sollte erst gefällt werden, wenn man den Parteivorstand gehört hat.
Auch Genosse Waigand vertrat zum Stichwahlabkommen eine andere Meinung als Rosa Luxemburg. Der Kampf habe dem Block der Konservativen und des Zentrums gegolten; deshalb wollte der Parteivorstand oppositionelle Kreise des Bürgertums zum Protest benutzen. Da käme man nicht um Kompromisse herum. Siehe Bremer Bürger-Zeitung, Nr. 54 vom 4. März 1911.
[3] Die von Anton Pannekoek entworfene Resolution wurde gegen wenige Stimmen angenommen. Sie lautete: „Die am 1. März tagende Mitgliederversammlung des bremischen sozialdemokratischen Vereins bedauert aufs tiefste das Stichwahlabkommen, das der Parteivorstand mit der Fr[eisinnigen] Vp. [Volkspartei] abgeschlossen hat, da sowohl die Heimlichkeit wie der Inhalt des Abkommens der Natur einer sozialistischen Massenpartei, die nur durch energischen Kampf gegen die ganze bürgerliche Welt ihre Ziele fördern kann, schnurstracks widerspricht.
Sie erklärt jeden Versuch, mit den Fortschrittlichen und den Nationalliberalen eine gemeinsame Politik der Linken zu treiben, für utopisch und nur geeignet, Verwirrung in das Proletariat zu tragen und die Quellen seiner Kraft, sein Klassenbewußtsein und sein revolutionäres Selbstvertrauen zu verschütten.
Sie erachtet es als notwendig, den großen Machtzuwachs, den unser Wahlsieg der deutschen Arbeiterklasse gebracht hat, in erster Linie zu einem neuen energischen Kampf für die Demokratisierung des Staatslebens auszunutzen, einem Kampf, der nicht im Parlament, sondern nur durch Massenaktionen der Arbeitermassen selbst zum erfolgreichen Ausgang gebracht werden kann; und sie betrachtet nach wie vor den Kampf um das preußische Wahlrecht als die nächste Aufgabe der sozialdemokratischen Partei.“ Siehe Bremer Bürger-Zeitung, Nr. 53 vom 2. März 1911.