Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 655

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Monarchie, Kaiserreden und Sozialdemokratie. Rede am 10. September 1910 in einer Volksversammlung in Schopfheim

Nach einem Zeitungsbericht

Der 500 Personen fassende Saal [des Gasthofes zum „Pflug“] war gedrängt voll von Angehörigen aller Parteirichtungen, welche die bekannte Vertreterin des Klassenkampfes hören und sehen wollten. Nach der Versicherung der Einberufer sollte die Referentin schon mit Rücksicht auf den Beschluß des Parteitages in Offenburg nicht über die Budgetfrage sprechen;[1] allein es kam anders. Nicht lange dauerte es, da wurde man gewahr, daß obiges Thema Nebensache, die Budgetfrage aber die Hauptsache für sie war. Anfangs freilich schien es, als sollte diese Versammlung ein gewaltiger Protest gegen die ganze herrschende Gesellschaft, insbesondere gegen die jüngsten Kaiserreden,[2] werden. In feinen geistreichen Ausführungen besprach Rednerin die absolutistischen Bekenntnisse Wilhelms II., der ein Feind der Sozialdemokratie, demnach der größte Agitator für dieselbe sei. Nach einem Rückblick auf die Bewegung im Jahre 1848, in der Ströme von Blut geflossen seien,[3] kommt Rednerin zu der Ansicht, daß es die Schuld der damaligen liberalen Partei ist, wenn wir heute noch 22 Vaterländer in Deutschland haben. Auch die uferlosen Flotten- und Militärrüstungen wurden eingehend gewürdigt. Nun kam die Hauptsache, die Budgetbewilligung durch die badische Landtagsfraktion. Die Partei verlange keinen Kadavergehorsam, aber Disziplin müsse herrschen. Rednerin verbreitet sich über die Beschlüsse der Parteitage in Frankfurt [1894], Lübeck [1901], Nürnberg [1908], wonach kein Sozialdemokrat für das Budget einer bürgerlichen Regierung stimmen könne. Kolb habe die Ablehnung als „leere Demonstration“, die Bewilligung als „durch die badischen Verhältnisse bedingt“ bezeichnet.[4] Durch das Zusammenarbeiten mit den Sozialdemokraten seien die Nationalliberalen nicht besser geworden. In gewisser Hinsicht sind die Nationalliberalen ebenso reaktionär wie das Zentrum. Trotzdem ist das Zentrum der schlimmere Feind, schon wegen seines Einflusses auf die Massen durch religiöse Momente. Aber nicht durch parlamentarische Kunststücke, sondern durch Aufklärung könnten ihm die Massen entrissen werden. Rednerin zitierte dann eine Erklärung des Abg.

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[1] Am 14. Juli 1910 hatte die Mehrheit der sozialdemokratischen Landtagsfraktion in Baden dem Budget zugestimmt. Dazu entschied der Offenburger Parteitag am 20. und 21. August 1910 über folgende Resolutionen: Mit 136 gegen 36 Stimmen wurde die Resolution Sauer und Genossen angenommen: „Der Parteitag erkennt an, daß die sozialdemokratische Landtagsfraktion das von der Parteigenossenschaft Badens erhaltene Vertrauen in weitgehendstem Maße gerechtfertigt hat und spricht deshalb der Fraktion für ihre Tätigkeit im verflossenen Landtag uneingeschränkte Anerkennung aus. Insbesondere wird die Zustimmung zum Finanzgesetz gebilligt.“ Die Resolution Arnold-Mannheim und Genossen erhielt 145 Stimmen. Sie lautete: „Gegenüber der Aufforderung der preußischen und sächsischen Parteigenossen, die von den Mitgliedern der badischen Landtagsfraktion die Niederlegung ihrer Mandate verlangen, spricht der Parteitag die bestimmte Erwartung aus, daß sich keiner der in Frage kommenden Abgeordneten zu diesem Schritte drängen läßt. Der Parteitag erwartet vielmehr, daß die Genossen auf ihrem Posten ausharren und ihr Mandat, wie bisher, im Interesse der Partei ausüben.“ Mit 138 gegen 45 Stimmen wurde die Resolution Merkel-Mannheim abgelehnt, in der es u. a. hieß: „Der Parteitag erklärt, daß die Budgetzustimmung unserer Fraktion durch die Verhältnisse in Baden nicht genügend gerechtfertigt erscheint und gegen den Beschluß der Gesamtpartei verstößt. Der Parteitag bedauert die Abstimmung und verlangt, daß die Einheit der Aktion unter allen Umständen gewahrt bleibt. Der Parteitag hält die Hofgängerei einzelner Genossen für unvereinbar mit den Grundsätzen der Partei und erwartet, daß solche Entgleisungen in Zukunft vermieden werden.“ Mit 145 gegen 22 Stimmen wurde beschlossen: „Der Parteitag hält es für unangebracht, daß öffentliche Versammlungen innerparteiliche Fragen erörtern und fordert die Genossen auf, derartige Versammlungen, – die im Endeffekt nur dem Gegner dienen können – nicht einzuberufen.“ Siehe Volksfreund (Karlsruhe), Nr. 194 vom 22. August 1910.

[2] Laut Volksfreund (Karlsruhe), Nr. 199 vom 27. August 1910, hatte Wilhelm II. am 26. August 1910 [25.!] in einer Rede in Königsberg das angebliche Gottesgnadentum seiner monarchischen Stellung betont, die nicht von Parlamenten, Volksversammlungen und Volksbeschlüssen abhängig sei, und seinen Willen zur Stärkung des persönlichen Regiments bekundet. Stets gelte es bereit zu sein, unsere Rüstungen lückenlos zu erhalten im Hinblick darauf, daß unsere Nachbarmächte so gewaltige Fortschritte gemacht haben, denn nur auf unserer Rüstung beruhe der Friede. „Ohne Rücksicht auf Tagesansichten und Meinungen gehe ich meinen Weg“, schloß er, „der einzig allein der Wohlfahrt und friedlichen Entwicklung unseres Vaterlandes gewidmet ist.“ Im In- und Ausland hatte sein provokatorisches Auftreten Aufsehen und Empörung hervorgerufen, so daß seine Rede am 29. August 1910 in Marienburg als eine gewisse Korrektur angesehen wurde.

[3] Am 18. März 1848 hatten Berliner Arbeiter, Kleinbürger und Studenten den Kampf mit dem preußischen Militär aufgenommen, Barrikaden errichtet und den preußischen Truppen eine Niederlage zugefügt. Friedrich Wilhelm IV. war gezwungen worden, das Militär aus Berlin zu entfernen. Die Regierungsgewalt ging in die Hände der liberalen Bourgeoisie über. Am 8. November 1848 begann der konterrevolutionäre Staatsstreich in Preußen. Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel marschierte in Berlin Militär ein. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf. Mit dem Verzicht auf ihre in den Märzkämpfen errungenen Positionen verriet die Bourgeoisie die Revolution. Auf dieses Versagen des Liberalismus kam Rosa Luxemburg mehrfach ausführlich und kritisch zu sprechen.

[4] Siehe Wilhelm Kolb: Die Taktik der badischen Sozialdemokratie und ihre Kritik, Karlsruhe 1910, S. 15 bis 17; Rede von Wilhelm Kolb zur parlamentarischen Tätigkeit der Landtagsfraktion. In: Protokoll und Bericht der Sozialdemokratischen Landesorganisation Badens zu dem Parteitag in Offenburg am 20. und 21. August 1910, Mannheim 1910, S. 33–37.