Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 721

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1912

Der Aufmarsch der politischen Parteien zur Reichstagswahl. Rede am 3. Januar 1912 in einer Volksversammlung in Weimar

[1]

Nach Zeitungsberichten

I

Weit zurückgreifend auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung Deutschlands und die Mitbeteiligung der einzelnen Parteien an der bestehenden Volksbedrückung und Volksausbeutung, gab Rednerin ein scharf umrissenes Bild der gegenwärtigen Situation auf politischem wie wirtschaftlichem Gebiete. Die jüngsten Ereignisse im In- und Auslande gaben ihr hinreichend Gelegenheit, ihre Darlegungen mit drastischen Beispielen zu belegen. Die fast zweistündigen temperamentvollen Ausführungen der Rednerin wurden mit stürmischem Beifall aufgenommen.

Tribüne (Erfurt),

Nr. 4 vom 6. Januar 1912.

II

Die ausgesprochen antimilitaristische Propaganda, in deren Zeichen die gestrige Rede stand, gipfelten in dem Ausspruch, daß die Entscheidung von Krieg und Frieden nicht in den Händen des Kaisers und seiner Ratgeber, sondern bei der Masse des Volkes liegen müsse. Der internationale Gedanke der deutschen Sozialdemokratie sei der wahre Mittler internationaler Verständigung. Frau Dr. Rosa Luxemburg zog darauf gegen den „Kadavergehorsam“ der deutschen Armee zu Felde und war nicht weit davon entfernt, den militärischen Ungehorsam und die Maßregel des Massenstreiks im Kriegsfalle zu propagieren, für die sie schon auf dem letzten Parteitage in Jena so warm eingetreten ist.[2]

Die Bismarck’sche Zollgesetzgebung, die Schutzzollpolitik der herrschenden Parteien[3] und die jüngste Reichsfinanzreform[4] hätten eine außerordentliche Steigerung der indirekten Steuer herbeigeführt und stellten in ihrer Gesamtheit eine Raub- und Ausbeutepolitik der kapitalistisch-agrarischen Wirtschaftsordnung dar, die zu stürzen nach wie vor das Ziel der Sozialdemokratie sein müsse. Nicht die Dürre des vorigen

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[1] „Im Januar rede ich vom 3.–11. jeden Tag“, schrieb sie am 29. November 1911 an Kostja Zetkin. Siehe GB, Bd. 4, S. 130. Neben Weimar geschah das in Arnstadt, Eisenach, Erfurt, Jena, Ilmenau, Frankfurt (Main), Bockenheim und Hagen.

[2] Siehe ihre Beiträge auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Jena, der vom 10. bis 16. September 1911 stattfand. In: GW, Bd. 3, S. 45 ff.

[3] Zollgesetz und Zolltarif mit einer enormen Erhöhung der Agrar- und einiger Industriezölle waren am 14. Dezember 1902, der denkwürdigen Adventsnacht, im Deutschen Reichstag mit 202 gegen 100 Stimmen beschlossen worden und ab 1. März 1906 in Kraft getreten. Danach sollten die Großhandelspreise 1906 bis 1910 im Vergleich zu 1901 bis 1905 für Roggen um 21, Weizen 19, Hafer 18, Kartoffeln zwei, Ochsen 13, Schweine 14 und für Butter um 8 Prozent steigen. Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die drohende Verschlechterung der Lebenslage für die Mehrheit der Bevölkerung eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes bekannt geworden waren. Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. dreieinhalb Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegen die Vorlage des Bundesrates begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Fraktion hatte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage gekämpft. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 Mal das Wort. In der 2. Lesung sprach August Bebel allein 24 Mal. – Die Ausarbeitung der neuen Zolltarifgesetzgebung, die allen Handelsverträgen zugrunde gelegt werden sollte, hatte bereits am 29. September 1897 auf Verfügung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes, Fürst Bernhard von Bülow, begonnen. Sie beabsichtigte neue Industrie- und Agrarzölle, zielte auf Schutzzölle ab und sollte die Freihandelszeit beenden. Das Ergebnis war das Zolltarifgesetz von 1902.

[4] Am 10. Juli 1909 war im Deutschen Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei angenommen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.