Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 720

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Im Zusammenhang damit ist auch die Frage aktuell: Was gedenken wir im Kriegsfalle zu tun, und wie werden wir handeln? Wenn neulich im Reichstage einige sozialdemokratische Abgeordnete versicherten, die Sozialdemokratie dächte nicht daran, im Falle eines Krieges den Massenstreik anzuwenden, so haben sie sicher mehr gesagt, als sie verantworten können. (Sehr gut!) Obwohl kein Mensch zu sagen vermag, was in einem bestimmten Falle geschehen wird, und die Entscheidung bei den Massen liegt, kann auch heute niemand versichern – und sei es selbst der oberste Führer der internationalen Sozialdemokratie –, wir werden keinen Massenstreik machen! Was geschehen wird, das hängt von dem Maße der Einsicht ab, über das die deutsche und internationale Arbeiterschaft verfügt. Hat das internationale Proletariat in genügender Weise erkannt, daß es zusammengehört und der internationale Kapitalismus ein gemeinsamer Feind ist, dann wird es sich nicht gegenseitig zerfleischen wie wilde Bestien; dann werden die Herrschenden endlich die Antwort bekommen: Das tun wir nicht! (Sehr richtig!) Auch der Kadavergehorsam der in die Soldatenröcke gezwängten Proletariersöhne wird einmal aufhören. (Beifall.) Die Entscheidungsstunde, wo die Geschicke der Völker in den Händen des internationalen Proletariats liegen werden, rückt immer näher. Der große weltgeschichtliche Moment wird kommen, sobald die Arbeiterklasse reif dafür ist. Ist der Kapitalismus mit der Aufteilung der Welt fertig – und jetzt trifft er die letzten Anstalten dazu –, so wird er zum letzten Entscheidungskampfe mit dem Proletariat drängen. Dann werden die Zeiten kommen, wo es mit der Abgabe eines sozialdemokratischen Stimmzettels allein nicht mehr getan ist! Wir werden größere Opfer für unsere Überzeugung und Sache bringen müssen! (Sehr richtig!) Die Proletarier, die Blut und Leben für den Kapitalismus lassen müssen, werden nicht feige zurückstehen, wenn es gilt, die gleichen Opfer für ihre eigene Sache zu bringen. (Stürmisches Bravo!) Aber eben weil wir wissen, um was es letzten Endes geht in dem Entscheidungskampfe zwischen Kapital und Arbeit, muß es uns bei den bevorstehenden Reichstagswahlen vor allen Dingen darauf ankommen, nicht nur Wähler, Mitläufer, sondern der Partei überzeugte Anhänger, wetterharte, tatkräftige Klassenkämpfer zu gewinnen. Wir müssen die Stimmen wägen, und nicht nur zählen! Ein paar Mandate mehr oder weniger, das darf nicht von ausschlagender Bedeutung sein. Wirken und handeln wir allezeit und vor allem auch bei den Reichstagswahlen stets im Sinne des prächtigen Ausspruchs, den Genosse Bebel auf dem Dresdner Parteitage tat: „Ich bin und bleibe ein Todfeind der bürgerlichen Gesellschaft!“[1] (Stürmischer, lang anhaltender Beifall.)

Volksblatt (Halle a. S.)

Nr. 284 vom 5. Dezember 1911.

Ein Auszug wurde veröffentlicht in: Roswitha Mende/Karl-Heinz Leidigkeit: Von der Jahrhundertwende bis zum Roten Oktober. Geschichte der sozialdemokratischen Bezirksorganisation Halle-Merseburg 1900 bis 1917, Halle 1987, S. 246 f.

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[1] Siehe Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September 1903, Berlin 1903, S. 313, wo es heißt: „Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben, um sie in ihren Existenzbedingungen zu untergraben und sie, wenn ich kann, beseitigen.“