Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 620

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/620

Rede am 1. Mai 1910 auf einer Massenversammlung unter freiem Himmel in Köln

[1]

Nach einem Zeitungsbericht[2]

Festgenossen, Kampfgenossen! Am heutigen 1. Mai, dem Feste der Arbeit, sind abermals in allen Ländern, in allen Nationen die Unterdrückten und Ausgebeuteten versammelt; Millionen von Proletariern begrüßen heute wiederum die Botschaft des 1. Mai als die Botschaft einer besseren gesellschaftlichen Ordnung, als die Botschaft von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Diesmal fällt das Fest der Arbeit zwischen heiße Schlachten; aber die kämpfenden Proletarier sind nicht gekommen, das Rüstzeug abzulegen, sondern um neue Waffen zu schmieden für den Klassenkampf, der nie so heftig entbrannt ist wie jetzt. Es braucht nur an den Kampf im Baugewerbe erinnert zu werden,[3] der augenblicklich in Deutschland tobt. Hunderttausende Arbeiter sind aufs Straßenpflaster geworfen worden, um durch den Hunger mürbe gemacht zu werden. Dieser Kampf auf Leben und Tod kann morgen die Arbeiter der anderen Industriezweige treffen, denn von Tag zu Tag steigert sich der Haß des koalierten Unternehmertums gegen die Gewerkschaften, denen das Rückgrat gebrochen werden soll. Aber schon heute kann gesagt werden, daß der gegen die Organisationen der Bauarbeiter geführte Schlag ins Wasser fallen, daß das Unternehmertum nicht triumphieren wird, denn hinter den Ausgesperrten stehen wie eine Mauer die Proletarier Deutschlands, und wenn es sein muß, der ganzen Welt. Die Solidarität des Proletariats ist eine feste Burg, die Solidarität der Unternehmer ist dagegen jetzt schon in die Brüche gegangen. Die Arbeiter werden mit verzehnfachter Kraft aus diesem Kampfe hervorgehen; wer noch einen Funken des Gerechtigkeitsgefühls in der Brust hat, muß zu einem Todfeind der heutigen bürgerlichen Gesellschaftsordnung werden, die derartige wirtschaftliche Kämpfe hervorruft.

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[1] Überschrift der Redaktion.

[2] In ihm heißt es: „Die Maifeier in Köln war ein Ereignis, das in der Geschichte der rheinischen Metropole bisher einzig dasteht, sowohl nach der Masse der Demonstranten als nach dem Aufgebot der ‚bewaffneten Macht‘. Soviel vernickelte Pickelhauben hat man in Köln noch nie beisammen gesehen. Die Polizei hatte ihre ganzen Reserven bis auf den letzten Mann aufgeboten; […] Der Verlauf des gestrigen Tages hat bewiesen, daß man den Maiumzug zu Unrecht verboten hat, daß die Einwände des Polizeipräsidiums gegen die Genehmigung des Umzugs nichts als Hirngespinste waren. Die ‚Kölnische Zeitung‘ erkennt den mustergültigen Verlauf der Maifeier unumwunden an. Sie schreibt: ‚Wie die Wahlrechtsversammlungen, so ist auch diese große Kundgebung in voller Ordnung und ohne jede Ausschreitung verlaufen.‘ In diesem einen Satze des polizei- und regierungsfrommen Blattes liegt eine Verurteilung der gesamten Maßnahmen der Kölner Polizei, wie sie sich schärfer nicht denken läßt.“

[3] Gegen die Massenaussperrung im Baugewerbe begannen am 15. April 1910 160000 Bauarbeiter den Kampf, um ihre Forderungen nach Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung, nach örtlichen Tarifverträgen und Agitationsfreiheit durchzusetzen. Der Streik dauerte in einigen Großstädten bis Anfang Juli.