Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 621

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Aber nicht nur um eine wirtschaftliche, sondern auch um eine politische Losung handelt es sich heute. In der Wahlrechtsfrage ist dieser Tage ein brutaler Streich gegen die Arbeiter gefallen.[1] Das Herrenhaus hat sich erdreistet, das Gesetzeswerk des Abgeordnetenhauses noch elender und volksfeindlicher zu gestalten. Durch die Annahme des Antrages Schorlemer[2] soll ein für allemal ein Riegel vorgeschoben werden, damit die Sozialdemokratie keinen einzigen Abgeordneten mehr ins preußische Parlament entsenden kann. Der Streich des Herrenhauses ist eine Provokation des arbeitenden Volkes, wie sie schlimmer nicht gedacht werden kann.

Welche Lehren sollen wir aus dem Verlaufe des Wahlrechtskampfes ziehen? Zunächst die, daß auf parlamentarischem Wege keine annehmbare Wahlreform zustande kommt, und ferner, daß nur durch den Kampf auf der Straße, durch den Kampf von unten her, das allgemeine Wahlrecht in Preußen erkämpft werden kann. Das Herrenhaus hat die Wahlreformvorlage so verschlechtert, daß sie selbst vom Zentrum für unannehmbar erklärt wurde. Die Vorlage ist in ihrer jetzigen Gestalt vom Zentrum aber nicht aus prinzipieller Gegnerschaft verworfen, sondern weil das Herrenhaus in das giftige Gebräu, das der Sozialdemokratie zugedacht war, auch einige Tropfen Gift für das Zentrum geschüttet hat. So wie das Zentrum die Reform gemacht hat, sollte sie eine tödliche Schlinge für die Sozialdemokratie sein, aber jetzt, wo einige Zentrumsmandate bedroht sind, ist die Vorlage für diese Partei unannehmbar. Dabei trägt aber gerade das Zentrum die Schuld an der Verhunzung der Reform, denn allen seinen Erklärungen und Versprechungen zuwider hat es die Anträge auf Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts abgelehnt. Im Plenum allerdings, vor der breiten Öffentlichkeit, hat es sich durch seinen offiziellen Redner für die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen ausgesprochen,[3] hinter den Kulissen der Kommission aber hat es alle darauf zielenden Anträge abgelehnt. Es gibt in der Tat keine Partei, die die Infamie, die Lüge und den Verrat der Volksinteressen so zum Prinzip erhoben hat, wie das Zentrum. Die Rednerin erinnerte im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen noch an andere Schandtaten des Zentrums, an die Zustimmung zum Brotwuchertarif im Jahre 1902,[4] an den schändlichen Verrat der Bergarbeiterinteressen nach dem großen Bergarbeiterstreik im Jahre 1905,[5] wo das Zentrum dafür sorgte, daß die Forderungen der Bergleute im Landtage zunichte gemacht wurden, statt dafür einzutreten, daß der Reichstag darüber entscheide. Und die Haltung

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[1] Die auf Druck der Massenbewegung von der preußischen Regierung am 5. Februar 1910 eingebrachte Vorlage zur Änderung des preußischen Wahlrechts, die nur eine geringfügige Änderung der Klasseneinteilung und die direkte Wahl unter Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts vorsah, wurde durch die Kommissionen des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses abgelehnt. Die machtvollen Wahlrechtskämpfe, die vom Februar bis April 1910 ihren Höhepunkt erreichten, zwangen die Regierung, ihre Änderungsvorlage am 27. Mai 1910 zurückzuziehen.

[2] Nach dem Antrag des Freiherrn Clemens A. von Schorlemer am 29. April 1910 soll die Drittelung in Gemeinden erfolgen, wenn diese nicht mehr als 10000 Einwohner haben. In Gemeinden von 10000 bis 30000 Einwohnern werden zwei Drittelungsbezirke gebildet, in größeren Gemeinden für jedes angefangene 20000 Einwohner ein weiterer Drittelungsbezirk. Siehe Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, Berlin, 5. Jg., Nr. 10 vom 14. Mai 1910, S. 187.

[3] Siehe Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 2. Bd., Berlin 1910, Sp. 1478.

[4] Zollgesetz und Zolltarif mit einer enormen Erhöhung der Agrar- und einiger Industriezölle waren am 14. Dezember 1902, der denkwürdigen Adventsnacht, im Deutschen Reichstag mit 202 gegen 100 Stimmen beschlossen worden und ab 1. März 1906 in Kraft getreten. Danach sollten die Großhandelspreise 1906 bis 1910 im Vergleich zu 1901 bis 1905 für Roggen um 21, Weizen 19, Hafer 18, Kartoffeln zwei, Ochsen 13, Schweine 14 und für Butter um 8 Prozent steigen. Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die drohende Verschlechterung der Lebenslage für die Mehrheit der Bevölkerung eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes bekannt geworden waren. Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. dreieinhalb Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegen die Vorlage des Bundesrates begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Fraktion hatte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage gekämpft. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 Mal das Wort. In der 2. Lesung sprach August Bebel allein 24 Mal.

[5] Vom 7. Januar bis 19. Februar 1905 hatten etwa 215000 Bergarbeiter im Ruhrgebiet für den Achtstundentag, für höhere Löhne und Sicherheitsvorkehrungen gestreikt. Sie waren durch Solidaritätsstreiks der deutschen und internationalen Arbeiterklasse unterstützt worden. An diesem bedeutenden Massenstreik hatten sich gemeinsam die freigewerkschaftlichen, christlichen und Hirsch-Dunckerschen Bergarbeiterverbände, die Polnische Berufsvereinigung sowie unorganisierte Arbeiter beteiligt.