Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 622

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der Zentrumspresse gegenüber ausgesperrten Bauarbeitern zeigt, auf wessen Seite ihre Sympathie ist. Wie kommt es aber, daß in Preußen heute noch zwei Parteien herrschen, die eigentlich ins Mittelalter gehören? Das haben wir den Sünden des Liberalismus zu danken, der im Jahre 1848 seine Macht nicht ausnutzte.[1] Wenn damals der Liberalismus mehr als eine Phrase gewesen wäre, hätte er die Republik proklamieren müssen. (Stürmischer Beifall.) Wenn damals die Throne der deutschen Machthaber in Stücke geschlagen worden wären, dann brauchten wir heute nicht um politische Rechte zu kämpfen, die die Grundlage jedes modernen Staates sind.

Im Kampfe um bessere politische Zustände steht das Proletariat allein da. Bedeutet das aber Schwachheit? Nein! Denn wir zählen nach Millionen; wir sind diejenigen, von deren Hände Arbeit der Staat und die Gesellschaft leben. Wenn wir einmal unsere Arme kreuzen, wo bleiben dann die herrschenden Klassen? Dann wird sich herausstellen, daß der Staat ganz gut ohne die herrschenden Klassen bestehen kann. Genossin Luxemburg führte darauf die Verfassungskämpfe in Belgien[2] und Rußland[3] an, aus denen unsere Machthaber lernen sollten, den Geist und die Forderungen der Zeit zu begreifen. Vorläufig ist daran aber nicht zu denken, weil die Herrschenden noch glauben, sich auf ihre Machtmittel stützen zu können. Die Proletarier brauchen diese Machtmittel nicht zu fürchten.

Wenn man aber wagen würde, die letzten Machtmittel des Staates gegen uns anzuwenden, so wird das ein Echo unter den Proletariern ganz Deutschlands auslösen, daß den Herrschenden Hören und Sehen vergeht. Mit brutaler Gewalt kann eben eine weltgeschichtliche Bewegung, wie es die Sozialdemokratie ist, nicht unterdrückt werden. Mit hinreißenden Worten forderte Genossin Luxemburg zum Schluß auf, unermüdlich weiter zu arbeiten und zu kämpfen im Sinne unserer Maifestforderungen. Sie schloß ihren mit stürmischem Beifall aufgenommenen Vortrag mit den Worten Freiligraths:

Trotz alledem und alledem,

Unser die Welt, trotz alledem![4]

Rheinische Zeitung (Köln),

Nr. 101 vom 2. Mai 1910.

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[1] Am 18. März 1848 hatten Berliner Arbeiter, Kleinbürger und Studenten den Kampf mit dem preußischen Militär aufgenommen, Barrikaden errichtet und den preußischen Truppen eine Niederlage zugefügt. Friedrich Wilhelm IV. war gezwungen worden, das Militär aus Berlin zu entfernen. Die Regierungsgewalt ging in die Hände der liberalen Bourgeoisie über. Am 8. November 1848 begann der konterrevolutionäre Staatsstreich in Preußen. Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel marschierte in Berlin Militär ein. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf. Mit dem Verzicht auf ihre in den Märzkämpfen errungenen Positionen verriet die Bourgeoisie die Revolution. Auf dieses Versagen des Liberalismus kam Rosa Luxemburg mehrfach ausführlich und kritisch zu sprechen.

[2] Am 12. April 1893 hatte die belgische Kammer den Antrag zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts und alle anderen Anträge für eine Wahlreform abgelehnt. Der Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei rief daraufhin am 13. April zum sofortigen Ausstand auf. Diesem Aufruf folgten etwa 250000 Arbeiter. Durch diesen Massenstreik vom 13. bis 18. April 1893, bei dem es zu Straßendemonstrationen und Zusammenstößen mit der Polizei kam, sah sich die Kammer gezwungen, den Forderungen zu entsprechen. Sie beschloß am 18. April das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum, wonach eine Person unter bestimmten Voraussetzungen (Steueraufkommen, Schulbildung) mehrere Stimmen abgeben konnte. Am 14. April 1902 begann in Belgien erneut ein Massenstreik, an dem sich über 300000 Arbeiter beteiligten. Er wurde vom Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei jedoch am 20. April 1902 abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.

[3] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/06.

[4] Der Bericht schließt: „Darauf wurde die Versammlung mit einem brausenden Hoch auf das allgemeine Wahlrecht geschlossen, und unter dem Gesang der Marseillaise gingen die Teilnehmer auseinander. Am Abend fanden sich die Genossen und Genossinnen in Köln im Volkshaus und im Roten Löwen, in Ehrenfeld, in Lindenthal, Braunsfeld, Nippes, Riehl, Deutz, Kalk, Vingst, Humboldt-Kolonie und Brühl zu Festlichkeiten zusammen, die sämtlich massenhaft besucht waren und einen glänzenden Verlauf nahmen.“