Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 584

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Der Wahlrechtskampf und seine Lehren. Referat am 6. April 1910 auf einer Volksversammlung in Bremen

Nach einem Zeitungsbericht[1]

Ich danke Ihnen zunächst für die freundliche, obwohl unverdiente Begrüßung[2] und möchte hinzufügen, daß ich vor Anfang meines Vortrages noch ein Bekenntnis zu machen habe. Als ich heute vom Bahnhof in die Stadt ging, fiel mein Blick zufällig auf eine Anschlagsäule. Dort erblickte ich ein Blatt gelbes Papier, das mich ungemein anheimelte (Heiterkeit). Kaum hatte ich das gelbe Blatt Papier gesehen, so fühlte ich mich ganz wie in meinem lieben Berlin. (Heiterk[eit.]) Was auf dieser großen Litfaßsäule geschrieben stand, war die schöne Revolutionssprache des Polizeipräsidenten v. Jagow, nur im republikanischen Bremer Deutsch. (Heiterkeit.)[3] Hier muß ich eine kleine historische Erinnerung auskramen. Der Demokrat Ludwig Börne hat 1820 in seinen Pariser Briefen scherzhaft die Preisfrage aufgeworfen, weshalb der alte reaktionäre deutsche Bund, der bis auf die Knochen monarchisch war, für die Hansestädte die republikanische Verfassung bestehen lassen habe. Börne sagte, der alte Bund habe das getan, damit durch die Beispiele der Hansestädte die republikanische Staatsverfassung vor aller Welt lächerlich und verächtlich gemacht werde. Es scheint, als ob die Erklärung Börnes nach 90 Jahren ihre Wahrheit und Frische nicht verloren hat.[4] Es bestätigt sich auch hier einmal wieder die alte Erfahrung, daß niemand so sehr bestrebt ist, die Sache der Sozialdemokratie zu fördern, wie unsere grimmigsten Feinde. Was bedeutet denn dieser Anschlag der Bremer Polizeidirektion? Es ist ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Arbeiterschaft: Ihr habt Euch anzuschließen mit aller Kraft an den

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[1] Dieser Bericht ist in der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), unter Nr. 459 ausgewiesen.

[2] Sie traf in Begleitung von Alfred Henke und Wilhelm Pieck um 20 Uhr ein und sprach bis 22 Uhr. Die Teilnehmerzahl im Casino, Bremen, betrug zunächst 3500, wuchs aber auf 4000 an.

[3] Die Bremer Polizeidirektion warnte am 5. April 1910, daß Ansammlungen unter freiem Himmel, Umzüge u. a. der Genehmigung bedürfen. Am 6. April 1910 meldete Polizeikommissar Richter an die Polizeidirektion, in der Rathaushalle ständen gegen 20 Uhr fünf Kommissare, sieben Wachtmeister und 105 Schutzleute bereit. – Traugott von Jagow war von 1909 bis 1916 Polizeipräsident in Berlin. Berüchtigt und für sein brutales Vorgehen gegen die Arbeiterklasse kennzeichnend war seine „Bekanntmachung“ vom 13. Februar 1910 zur Unterdrückung der Wahlrechtsbewegung in Berlin: „Es wird das ‚Recht auf die Straße‘ verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.“ Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, Berlin, 5. Jg. [1910], S. 74.

[4] Mit 1820 und nach 90 Jahren hat sich Rosa Luxemburg um zehn Jahre vertan. Börne hatte am 24. Dezember 1831 seinen 64. Brief aus Paris geschrieben, in dem es heißt: „So sind die freien Städte – welche die Monarchen nur darum fortbestehen ließen, um republikanische Regierungsformen lächerlich und verächtlich zu machen; um zu zeigen, daß ein Senat von Bürgern so knechtischer Gesinnung sein könne als ein Staatsrat von Edelleuten.“ Ludwig Börne: Briefe aus Paris, Wiesbaden 1986, S. 422. – Rosa Luxemburg benutzte vermutlich Ludwig Börnes gesammelte Schriften. Vollständige Ausgabe in sechs Bänden nebst Anhang: Nachgelassene Schriften in zwei Bänden. Mit Börnes Portrait, einem Briefe in Faksimile und einer biographisch-kritischen Einleitung von Alfred Klaar, die sie von August Bebel geschenkt bekommen hatte. Siehe Fünfter Band: Briefe aus Paris, Leipzig 1899, S. 320.