Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 661

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Der politische Massenstreik und die Gewerkschaften. Rede am 1. Oktober 1910 in der Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiterverbandes in Hagen i. W.

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Nach einem Zeitungsbericht

Eingangs ihres eineinhalbstündigen Vortrages kritisierte die Genossin Luxemburg mit beißender Satire das Verhalten der Hagener Polizeibehörde, die sich, trotz des Vereinsgesetzes mit Gewalt Eingang in die Generalversammlung verschafft hatte. Auf das eigentliche Thema übergehend, gab die Referentin zunächst einen historischen Rückblick auf die Ideen des politischen Massenstreiks und ließ dabei die Tätigkeit der internationalen Kongresse, die sich mit der Sache beschäftigt haben, Revue passieren. Streng aber sachlich wies die Referentin jede Identität der Ideen des sozialistischen Massenstreiks mit denen des Anarchismus zurück. Wo der Anarchismus verwirklicht sei, fehle jede organisatorische Zusammengehörigkeit. Im weiteren Verlauf besprach die Referentin die Wandlung in der Ansicht über den Massenstreik und die Erfolge dieser Streiks in den einzelnen Ländern im letzten Jahrzehnt. Nur im Kampfe können wir gedeihen, und mitten im Kampfe lernen wir, wie wir kämpfen müssen. Auch das volksfeindliche Verhalten der liberalen Bourgeoisie im Jahre 1848 wurde treffend charakterisiert.[2] In längeren Ausführungen, oft von tosendem Beifall unterbrochen, besprach sodann die Genossin Luxemburg die Propagierung des Massenstreiks in unseren eigenen Reihen, das Verhalten der Gegner einer solchen Propagierung, und betonte, daß gerade die Gewerkschaften bedacht sein müßten, mit der Idee des Massenstreiks sich mehr wie bisher zu beschäftigen, zumal auch die Aussperrungstaktik des Unternehmertums wohl zu beachten sei.

Am Schlusse ihres Vortrages appellierte Genossin Luxemburg an den Idealismus der Arbeiter, wobei sie daran erinnerte, daß die Arbeiterschaft anderer Länder schon schwere Kämpfe ohne Unterstützung ausgefochten habe, forderte zum Zusammenschluß der Arbeiter in den Organisationen auf und schloß mit den Worten des „Kommunistischen Manifestes“: Der Arbeiter hat nichts zu verlieren als die Ketten, aber eine Welt zu gewinnen.[3] Wenn die Arbeiterschaft sich ihrer großen Aufgabe bewußt

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[1] Für die LVZ ist der Bericht in der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1971 (Feliks Tych: Uzupelnienia do Bibliographii Prac [Pierwodruków] Rózy Luksemburg. In: Z pola walki 1971, Nr. 1), unter Nr. 45 ausgewiesen. Derselbe Text ist in der hier wiedergegebenen Dortmunder Arbeiter-Zeitung enthalten. Die ausführliche Fassung des Vortrages siehe GW, Bd. 2, S. 463 ff.

[2] Am 18. März 1848 hatten Berliner Arbeiter, Kleinbürger und Studenten den Kampf mit dem preußischen Militär aufgenommen, Barrikaden errichtet und den preußischen Truppen eine Niederlage zugefügt. Friedrich Wilhelm IV. war gezwungen worden, das Militär aus Berlin zu entfernen. Die Regierungsgewalt ging in die Hände der liberalen Bourgeoisie über. Am 8. November 1848 begann der konterrevolutionäre Staatsstreich in Preußen. Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel marschierte in Berlin Militär ein. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf. Mit dem Verzicht auf ihre in den Märzkämpfen errungenen Positionen verriet die Bourgeoisie die Revolution. Auf dieses Versagen des Liberalismus kam Rosa Luxemburg mehrfach ausführlich und kritisch zu sprechen.

[3] Wörtlich heißt es im „Kommunistischen Manifest“: „Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ In: MEW, Bd. 4, S. 493.